Leben – nicht gelebt werden

Das Leben wird immer komplizierter. Viele sehnen sich nach einem „Befreiungsschlag“, um ihr Leben grundlegend zu vereinfachen. Nur wo beginnen? Werner Tiki Küstenmacher hatte mit dem Konzept „Simplify Your Life“ eine durchschlagende Idee. „Menschen sind zunehmend hilflos, mit den Dingen des Lebens zurechtzukommen.“ Sie sehnen sich nach Entschlackung, Entrümpelung, Entschleunigung, nach Befreiung ihres inneren und äußeren Lebens – würden die Dinge am liebsten ganz neu ordnen. Der evangelische Pfarrer, gelernte Journalist, Karikaturist und Autor Werner Tiki Küstenmacher (Jahrgang 53)… …ist in seinem Element. „Simplify Your Life“ (Vereinfache dein Leben) ist sein großes Thema. Der Bestseller mit gleichem Titel hat seit seiner Veröffentlichung 2001 über zwei Millionen Leser gefunden und wurde in bisher 20 Sprachen übersetzt.
Gerade wenn er vor Pfarrerinnen und Pfarrern spricht, wie jetzt während eines Studientags des Amtes für missionarische Dienste (AmD) in Dortmund, weiß er wovon er spricht. „Simplify Your Service“ (Vereinfache deinen Dienst) heißt deshalb sein Thema.

60 000 Sachen belasten den Alltag
Die übertreibende und zuspitzende Form der Karikatur setzt der bayrische Theologe bewusst ein, um seine Tipps und Botschaften zu veranschaulichen. Den Kern bildet das Modell einer Stufenpyramide mit acht Stufen. Sie stellt symbolisch die Lebensbereiche dar, die menschliches Leben ausmachen. Die unterste Ebene sind die Dinge/Sachen, mit denen Menschen sich umgeben. Fand man in einem Bauernhaus früherer Tage nur rund 800 Gegenstände, sind es heute – Küstenmacher hat in seinem Haus geschätzt – leicht 60 000 Gegenstände. Sie muss der Mensch verwalten, lagern, gebrauchen und zum Teil entsorgen. Hier liegt für manche, die sich von Dingen nicht trennen können, ein Problem. Die Gefahr, ein „Messie“ (jemand der keine Ordnung hält und nicht entsorgt) zu werden, ist groß.

Der Stapel redet: Du schaffst es nicht
Die anderen Lebensherausforderungen in der Pyramide sind Geld, Zeit, Gesundheit, Mitmenschen, Liebe und das eigene Ich. Die Spitze der Pyramide bildet eine Krone. Sie steht für die Mitte des Lebens, die alle Bereiche zusammenhält. Hier wird deutlich, dass „Simplify“ mittlerweile ein spirituelles Konzept sei, betont Küstenmacher. Sinnvoll ist es, mit dem „Aufräumen“ bei den Sachen zu beginnen. Bei Pfarrern könnte das der Schreibtisch sein. Doch gleich hier tappen manche in die Überforderungs-Falle. „Mit einer Schublade beginnen“, rät der Autor. Dabei soll das Fach vollständig ausgeräumt werden. Es wird deutlich: Das Aufräumen hat sehr viel mit Psychologie und dem Unterbewussten zu tun. Wir arbeiten gegen ein starkes Bedürfnis an, Artikel aufzuheben, weil man sie noch einmal lesen will, oder Dinge zu horten, weil man sie vielleicht noch einmal brauchen kann. Konsequenz: Die Dinge beginnen mit uns zu reden: „Die Stapel auf dem Schreibtisch schauen uns an und sagen: Du schaffst es nicht!“

Das Gefühl von Freiheit
Es gehe beim Entsorgen im Grunde gar nicht um Platzgewinn, sondern um das Loslassen von „gespeicherter Vergangenheit“. Doch das sei, wie mit dem Ballonfliegen: Wer zu viel Ballast hat, kann nicht zu neuen Zielen abheben, sagt Küstenmacher. „Wenn wir an einem Tisch sitzen, der frei ist, passiert etwas: Wir fühlen uns frei.“ Es gehe im Grunde darum, sich mit dem zu beschäftigen was man braucht und nicht mit dem, was man nicht braucht. Menschen sehnen sich danach zu leben und nicht, gelebt zu werden.

Neue Perspektive durch Krise
Krisen verleiten Menschen zunächst zum „Tunnelblick“: Sie schauen auf das, was nicht funktioniert, oder bald nicht mehr funktionieren wird. So aber bleibe der Mensch „mangelorientiert“, anstatt „ressourcenorientiert“ zu denken. Doch Menschen bekommen gerade auch durch Krisen eine neue Perspektive, so die Beobachtung des Theologen. Sie blicken auf, bekommen einen Blick für die Dankbarkeit, verstehen überhaupt wieder, was Gnade ist.

Tipp zu E-Mails
Neuer Schwung und neue Motivation hängen oft mit Innovation zusammen. Den Theologen riet Küstenmacher etwa dazu, den Arbeitstag nicht mit den E-Mails zu beginnen. Dadurch wird der Tag „kleinkariert“, denn die Beschäftigung mit den Mails sei kein aktives, sondern vielmehr ein reaktives Arbeiten. Zumindest einmal die Woche sollte der Tag mit etwas Großem beginnen.

Konzentration auf eine Sache
Ein Trugschluss sei die Arbeitsform, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, um der Zeit damit ein Schnippchen zu schlagen. Das mag bei einfachen mechanischen Tätigkeiten funktionieren, bei geistigen aber nicht. „Wir sollten uns den Luxus erlauben, uns auf eine Sache zu konzentrieren“, riet der Pfarrer. Dazu braucht es Mut, bestimmte Dinge nicht zu tun und sich der Meinung zu entziehen, man sei nur glaubwürdig in seinem Beruf, wenn man sich überfordert. Der Autor empfiehlt gerade den geistlichen Berufen, in ihrer Arbeit den biblischen Schritten von Säen, Ernten und Loslassen zu folgen. Dazu gelte es, den Kopf aufzuheben und zu fragen: Wo will ich denn hin? Was geht noch? Was brauchen die Menschen? Was haben wir noch an Ressourcen?

Q: Harald Mallas auf unserekirche.de