Wie prägt der Glaube die Menschen heute? Um diese Frage dreht sich die neue Ausgabe des Magazins „GEO kompakt“. Auf 150 Seiten beleuchten verschiedene Reporter in 16 Artikeln und mit vielen großformatigen Fotos das Phänomen „Glaube und Religion“. Bei einer Reise durch Deutschland stieß ein Reporter auf die unterschiedlichsten Ausprägungen des Wunsches der Menschen nach Höherem. Ex-Satanisten lassen sich beim „Freakstock“ in einem See bei Gotha taufen, in Berlin rufen Anhänger der afrobrasilianischen Candomblé-Religion Götter an und tanzen sich in Ektase, und in Stuttgart gibt es die „erste deutsche Mega-Church“, das „Gospel Forum“. Der Schriftsteller und Reporter Jörg-Uwe Albig machte für „GEO kompakt“ eine Reise… … durch unser Land, die ihm die bunte Vielfalt der Religiosität in Deutschland verdeutlichte. Im Vorwort der aktuellen Ausgabe Nr. 16 (09/08) schreibt „GEO kompakt“-Chefredakteur Michael Schaper: „Er ist bei seinen Recherchen immer wieder auf Menschen gestoßen, die sich ihren Glauben wie im Supermarkt aus den Versatzstücken verschiedener Religionen und Philosophien zusammengestellt haben, zu einer Art Patchwork-Weltanschauung.“
Schon vor Urzeiten hatte der Mensch offenbar Religion, fasst Schaper die Meinung vieler Wissenschaftler zusammen. Manche Forscher meinten sogar, dass „diese Spiritualität womöglich ein evolutionärer Vorteil“ war. Das Magazin will auf der einen Seite die Menschen so beschreiben, wie sie Glaube und Religion in ihrem Alltag leben, und zum anderen befragten die Reporter Wissenschaftler nach der Entstehungsgeschichte der Religionen „und den möglichen biologischen Wurzeln der Spiritualität“, etwa den Religionspsychologen Sebastian Murken sowie Neurologen, Genetiker und Biologen.
„Auf dem europäischen Religionsmarkt sind Christen am erfolgreichsten“
Zunächst bringt „GEO kompakt“ dem Leser das Thema durch ganzseitige Schwarz-Weiß-Bilder der Fotografin Giorgia Fiorio näher. Ein tibetischer Mönch, der sich selbst kasteit, ekstatische Voodoo-Anhänger auf Haiti, betende Moslems in Indonesien oder Juden am Sabbat wechseln sich ab.
Im Anschluss stellt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München, seine „10 Thesen zur Religion im 21. Jahrhundert“ vor. Entgegen der Ansicht vieler Soziologen sei die Religion niemals verschwunden, so Graf, sondern habe „in den vergangenen drei Jahrzehnten neue kulturelle Bedeutung gewonnen“. Seine zweite These lautet: „Neue Formen des Christentums wachsen mindestens ebenso stark wie der Islam – und sie missionieren aggressiver.“ Er fährt fort: „Die missionarisch erfolgreichsten Christen sind heute die Vertreter der Pfingstkirchen, die eine radikal-frömmlerische Form des Lebens und Glaubens pflegen.“
Zudem meint Graf, dass „Anbieter“ von Religionen wie auf einem „Religionsmarkt“ auftreten und miteinander konkurrieren. „Angebot erzeugt Nachfrage, Konkurrenz belebt das Geschäft – auch das Glaubensgeschäft.“ Zudem vermutet er, dass die Verschiedenheit der Religionen zu Konflikten führt. Aber für viel bedeutender als beispielsweise den „Kampf der Kulturen“ zwischen dem Islam und dem Westen hält Graf die „Konflikte innerhalb dieser Gesellschaften – etwa in Fragen der Bio-Politik oder über den rechtlichen Status homosexueller Partnerschaften“. In seiner achten These heißt es: „Europa wird zum Einwanderungskontinent für Muslime. Aber die islamischen Lebenswelten in Europa sind bunt und vielfältig.“ Über deutsche Christen schreibt er: „Am Wochenende gehen mehr Menschen zum Gottesdienst als in die Bundesligastadien. (…) Die simple Diagnose ‚Säkularisierung‘ trifft nicht zu.“ Sein Fazit: „In jedem Fall werden die christlichen Kirchen – trotz mancher sehr schlechter religiöser Performance und nachlassender Überzeugungskraft ihres hauptamtlichen Personals – auch in den kommenden Jahrzehnten die wichtigsten Akteure in Europa bleiben. Denn sie verwalten einen faszinierenden Schatz: ein uraltes religiöses Symbolkapital, das immer noch starke Sinnrenditen abwirft.“
Gläubige und Nichtgläubige kommen zu Wort
Ein anderer Autor geht unter der Überschrift „Die Verwalter der Wunder“ der Frage nach, wie eine Heiligsprechung in der katholischen Kirche funktioniert. Ein weiterer Artikel untersucht, wie sehr der Glaube bei Krankheiten eine Rolle spielt. Der Autor Cay Rademacher fragt auf 14 Seiten: „Wer war Jesus?“. Ein Dossier mit Karten, historischen Daten und den wichtigsten Informationen zu allen sechs Weltreligionen findet sich am Ende des Heftes.
„GEO kompakt“ befragte zudem acht Menschen nach ihrem Glauben. Zu Wort kommt unter anderem Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, der Mitglied im „Bund katholischer Unternehmer“ ist und jeden Sonntag die katholische Messe besucht. „Der Glaube an Gott gibt Sicherheit in einer Welt, in der so vieles mit Füßen getreten wird“, sagt Walter. Christliche Werte stünden in keinem Widerspruch zum Profitstreben, ist er überzeugt. „Wirtschaftliche Vernunft ist ja nicht unchristlich.“
Der bekennende Atheist Gerhard Vollmer, Physiker und Philosoph, verlangt von gläubigen Menschen einen „Beweis“, wenn sie von der Existenz Gottes sprechen. Für ihn persönlich gelte, dass er auch als Atheist keine Angst zu haben brauche. „Weil ich Sportler bin, weiß ich, dass man viele Hindernisse durch eigene Kraft überwinden kann.“ Für den 30-jährigen jüdischen Architekten Juval Porat aus Potsdam hingegen bedeutet Glaube „eine bewusste Entscheidung, sein Wertesystem zu verändern und künftig den überlieferten Texten und Regeln zu vertrauen“.
„Mein Glaube basiert auf der Botschaft der Bibel“ bekennt auf anderthalb Seiten die studierte Theologin Sabine Rückert, die als Gerichtsreporterin für die „Zeit“ arbeitet. Sie schreibt in „GEO kompakt“ darüber, wie der Glaube ihr und vielen anderen aus tiefen Krisen geholfen hat. Der Glaube sei ihr „Gewissheit, auch im Leid von einer Macht aufgehoben, von einem gewaltigen Kraftfeld getragen zu werden“.
Der Schriftsteller Harald Martenstein hingegen erläutert, warum er nicht glaubt. Er sei katholisch erzogen worden, habe sich dann jedoch von der Kirche abgewendet – auch wenn er nicht sicher ist, „ob diese Entscheidung, falls es überhaupt eine bewusste Entscheidung war, endgültig sein wird.“ Überhaupt wundere er sich über so viele Menschen, die „nur an Weihnachten und zum Heiraten in die Kirche gehen, aber dennoch davor zurückschrecken, den letzten Schritt zu tun und sich als ungläubig bezeichnen“.