Stiller Tod – Als hätten sie nie gelebt

Immer öfter sterben Menschen unbemerkt. Wie bei dem grausigen Fund im bayrischen Heimenkirch. Als die Tochter eines Hausbesitzers Ende Oktober 2008 nach einem Kronleuchter suchte, stieß sie in einer der Wohnungen auf die bereits skelettierte Leiche des letzten Mieters. Die Todesursache kann die Rechtsmedizin nicht mehr genau feststellen. Inzwischen geht sie davon aus, dass es kein Verbrechen war. Der Mann ist einfach gestorben – und dreieinhalb Jahre lang hat es niemand bemerkt. »So etwas sieht man nicht alle Tage«, meint Kriminaloberkommissar Michael Vogelsang, der den Fall bearbeitet hat. Der Tote…  …, ein gebürtiger Inder, hatte zuvor gesagt, er wolle in seine Heimat zurückkehren. So forschte niemand nach, als er schon einige Tage vor dem Abreisedatum verschwunden war. Auch nicht der Vermieter, der sich nach dem vermeintlichen Auszug nicht mehr um die heruntergekommene Wohnung gekümmert hatte.

Ein Extrem-, aber kein Einzelfall. Vogelsang erinnert sich an eine Frau, die wochenlang tot in der Badewanne lag, bis jemand nach ihr suchte. Vor sechs Wochen wurde im schwäbischen Aalen ein Mann gefunden, der schon ein halbes Jahr lang tot war.

Als bei einer Rentnerin Maden unter der Wohnungstür hervor krochen, klebten die Nachbarn einfach Klebeband über den Spalt. In Berlin saß ein Mann ein knappes Jahr tot vor seinem Fernseher. Wann er gestorben war, konnte nur noch anhand der aufgeschlagenen Fernsehzeitschrift vermutet werden.

Über diese Toten gibt es keine Statistik. Von den 800.000 Sterbefällen pro Jahr werden nur die gesondert erfasst, bei denen ein Verbrechen oder eine ungeklärte Todesursache vorliegen und die eine Untersuchung erfordern.

In der Berliner Rechtsmedizin finden sich so jedes Jahr um die 70 Tote, deren Zustand nahelegt, dass sie erst nach längerer Zeit entdeckt wurden. »Ich glaube nicht, dass niemand die Leiche bemerkt«, meint Helmut Maxeiner, Professor für Rechtsmedizin an der Charité. »Die Frage ist vielmehr, warum niemand etwas unternommen hat.«

Viele Menschen leben sehr zurückgezogen, meint Christian Owsinski, Sprecher der Polizeidirektion Schwaben Südwest. Die so Gestorbenen haben selten Verwandte oder zumindest keinen Kontakt zu ihnen. Ihre Wohnung liegt in Mietshäusern mit sporadischen Nachbarschaftsbeziehungen und sie sind nicht mehr berufstätig. Wenn dann noch Rente, Miete und Stromkosten automatisch überwiesen werden, fällt das Verschwinden der Menschen kaum noch auf. Ein Großstadtphänomen also?

Die Wohnungen der Toten erzählen viel über Einsamkeit und unbewältigte Probleme. Viele sind Alkoholiker oder Sammelwütige. Das vermutet die Polizei auch bei dem Mann aus Heimenkirch. »Unaufgeräumt wäre schmeichelhaft«, beschreibt Kriminaloberkommissar Vogelsang die Zimmer des Verstorbenen.

»Wenn man diese Wohnungen sieht, stehen einem die Haare zu Berge. Müll, Essenreste, Dreck von Haustieren – es sprengt jedes Vorstellungsvermögen, dass dort Menschen gelebt haben.«

Wer schon einmal einen Sterbenden begleiten durfte, weiß, dass viele Menschen im Moment des Todes allein sind. Doch auch wenn sie unbegleitet sterben, werden Angehörige und Nachbarn nach kurzer Zeit aufmerksam.

»Das bestellte Essen bleibt vor der Tür stehen, der Briefkasten quillt über oder die Haustiere machen sich bemerkbar«, zählt der Berliner Bestatter Stephan Hadraschek mögliche Indizien auf. »Bei normalen sozialen Kontakten werden die Menschen nach zwei bis drei Tagen gefunden.«

Auch in einem anonymen Umfeld sei nach einigen Tagen der Leichengeruch zu prägnant, um nicht bemerkt zu werden. Wenn trotzdem niemand die Polizei oder Feuerwehr alarmiert, gebe es deshalb andere Gründe.

»Wir haben die Welt der Toten und der Lebenden voneinander getrennt«, meint Hadraschek. 80 Prozent aller Menschen sterben im Krankenhaus oder anderen sozialen Einrichtungen. Außerhalb dieser akzeptierten »Sterbeorte« bleibt der Tod hingegen abstrakt.

Der Gedanke an ihn ist im normalen Leben fremd geworden. Dass im eigenen Haus ein Toter liegen könnte, wird deshalb verdrängt. In einigen Fällen auch dann, wenn alle Anzeichen dafür sprechen.

Autorin: Cornelia Kästner für UK v. 19.11.2008

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