Engel-Agenturen, Engel-Beratung, Engel-Therapie – lenkt der postmoderne Engel-Boom von Gott ab?

Wenn man einer einschlägigen Forsa-Umfrage trauen darf, glauben von den Deutschen zwei Drittel an Schutzengel; dies sind zwei Prozent mehr, als an Gott glauben. Offensichtlich sind Engel in der postmodernen Gesellschaft wieder erwünscht. Die Vorstellung von himmlischen Wesen wurde in den großen Religionen unterschiedlich verstanden, ließ sich theologisch schwer bestimmen und hatte zwischen ernstem Glauben und spielerischer Imagination stets etwas Schwebendes und Wandelbares. Von Rainer Maria Rilke bis zu Max Frisch und von Paul Klee bis zu Marc Chagall diente der Engel…  …noch in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Ausdrucksmittel, geriet dann aber unter Entmythologisierungsdruck, bis er ab den 80er Jahren in Filmen (beispielsweise in Wim Wenders‘ „Himmel über Berlin“) und Büchern wiedererstand. Zum Thema Engel erschienen in den letzten zehn Jahren unzählige Veröffentlichungen.

Dieser Engelboom ist wohl kaum ein Zeichen erstarkter religiöser Vitalität, sondern eher ein Spiegelbild der vielfältigen ästhetischen, psychologischen und spirituellen Bedürfnisse und Angebote der Gegenwart.
Da verzieren Engel lieblich bis kitschig Aufkleber, Tassen, Bettwäsche und Geschenkpapier, oder eine Engel-Agentur bringt mit jugendlich-schönen Schwingenträgerinnen und Musicalhits Glamour in eine Porsche-Präsentation oder eine Möbelhauseröffnung: Engel als Schmuck, Werbedekor und Show.

Ernster gemeint erscheinen Engel als Lebenshilfe auf dem esoterischen Beratungs- und Heilungssektor. Als eine Versandbuchhandlung 2006 erstmals einen „Internationalen Engelkongreß“ mit Vorträgen und Verkaufsständen veranstaltete, sollen bis zu 1600 Teilnehmer das Audimax der Universität Hamburg gefüllt haben. Ob über Bücher, Beratungsgespräche oder Kurse – zahlreiche Geistheiler und selbsternannte Lebensberater erteilen Ratschläge, die sie angeblich durch den Kontakt („channeling“) mit einem helfenden Geistwesen empfangen („Engelberatung“). Oder sie wollen durch deren höher schwingende „Energien“ unsere Lebenskraft stärken („Engeltherapie“) bzw. leiten dazu an, dies alles selbst zu versuchen. Dabei fassen sie „Gott“ irgendwie als Quelle von Kraft, Weisheit, Liebe und Licht auf, die uns die Engel in unsere grobstoffliche Welt hinein vermitteln. Hier erscheinen die Engel – ähnlich wie in Gnosis, Kabbala und Theosophie – nicht als erschaffene Helfer Gottes, sondern eher als Kanäle und Ausstrahlungen des Göttlichen selbst. Beweis? – Die eigene Intuition. Diagnose? – Überflüssig. Anwendungsbereich? – Unbegrenzt. Wie ein Buchtitel sagt: „Der Engel-Ratgeber: In jeder Lebenslage Schutz, Beistand und Trost durch die himmlischen Wesen finden.“

Engel als allgegenwärtige Lebenshilfe? Die Idee eines himmlischen Schutzgeistes, Beraters und Helfers mag, auch wenn sie einem außerbiblischen Weltbild entstammt, das Geborgenheitsgefühl eines Menschen stärken und damit positiv wirken. Allerdings bietet eine solche Vorstellung auch in hohem Maß eine Projektionsfläche für eigene Sehnsüchte und Wünsche. Dies kann deren Bewußtwerdung erleichtern, doch dazu sollte man sie – ähnlich wie wichtige Träume – einsichtsbereit bearbeiten, um sich und seine Aufgaben realistisch zu erkennen und nicht Selbsttäuschungen als höhere Eingebung zu adeln. Intuitionen sollte man nie blind vertrauen, weder den eigenen noch denen von medialen Ratgebern.

Inzwischen wird auch ein neues christliches Engelsverständnis angeboten. Inspiriert vom Engelboom und der (weithin theosophischen) Findhorn-Gemeinschaft versucht der Benediktiner Anselm Grün („50 Engel für das Jahr“) psychologische Lebenshilfe und biblische Spiritualität mit dem Bild von Engeln zu vermitteln. Sein Beispiel hat längst auch den Religionsunterricht und Schülergottesdienste angeregt. Grün betrachtet Engel nicht als göttlich-kosmische Energien, sondern als „Imaginationen einer Sehnsucht nach einer anderen Welt der Geborgenheit“ und „uns zugesprochene Weisheit“ – so wie Raphael den jungen Tobit begleitet und ein Engel Jesus am Ölberg gestärkt habe. Diese „spirituellen Lebensbegleiter“ beschreibt Grün nun als allegorische Personifizierungen von christlichen Tugenden, die man sich und anderen wünschen kann: als Engel der Liebe, der Versöhnung, des Aufbruchs, der Leidenschaft, des Muts, der Geduld, Langsamkeit, Verehrung usw.

Mit dieser psychologisch-spirituellen Umdeutung kann man eine Fülle von christlicher Lebensweisheit vermitteln. Doch was gewinnt man, wenn man diese in allegorische Gewänder hüllt, die doch immer etwas Rhetorisches und Puttenhaftes an sich haben? Sind manche der angesprochenen Haltungen und Werte nicht eher als „Früchte des Geistes“ zu verstehen? Und müssen uns Engel sagen: „Gott ist nahe“ (Anselm Grün)?

Lenkt die verstärkte Aufmerksamkeit auf die Engelpersonifizierungen letztlich nicht von Gott ab? Wenn heute Theologie und Verkündigung in Sachen Engelverehrung Zurückhaltung üben, könnte dies sehr wohl einem Anliegen der Bibel entsprechen. Denn so oft sie die Engel auch erwähnt, liegt ihr doch daran, sie entgegen den wuchernden Spekulationen und Vergöttlichungstendenzen ihres Umfeldes als Diener Gottes in seinem Heilswerk zu charakterisieren – ohne ihre Aufgaben systematisch in Zuständigkeitsbereiche und ihren Rang in eine Hierarchie einordnen zu wollen. Daraus läßt sich (nur) allgemein ableiten, daß sie uns schützen und mit uns Gott verehren. Doch haben sie keine Wirkungen des Geistes Gottes zu personifizieren oder ihn uns nahezubringen; dies hat der menschgewordene Logos auf unübertreffliche Weise selbst getan. Durch ihn erfahren wir unendlich mehr von Gott als durch Engel. Wer den Engel zu sehr in den Mittelpunkt rücken möchte, wird von ihm zurechtgewiesen: „Tu das nicht! Ich bin ein Knecht wie du und deine Brüder, die das Zeugnis Jesu festhalten. Gott bete an!“ (Offb 19,10)

Q: Stimmen der Zeit

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