(Von Raoul Löbbert für Rhein. Merkur Nr. 8 vom 19.02.2009) – Es ist Zeit für ein Geständnis: In meiner Facebook-Freundesliste finden sich nur drei Namen, die noch dazu zu drei Menschen gehören, die mich nicht interessieren und von denen ich hoffe, dass sie sich nie bei mir melden werden. Auch mein Profilfoto ist von eindeutig negativer Aussagekraft: Ich habe keins. „Ich glaube, Sie sollten sich Gedanken über Ihre mediale Identität machen“, so argumentiert Klaus Eck, Kommunikationsberater und Autor des Buchs „Karrierefalle Internet“. Als eine Art Online-Doc sorgt er sich um… …meine schwächliche Medienkompetenz. Denn ein verwahrloster Auftritt auf einer „Social Networking“-Seite wie Facebook, StudiVZ und MySpace zeuge davon, dass man von den durch Internet, Handy, Blackberry und Twitter immer komplexer werdenden Kommunikationsformen des digitalen Zeitalters nichts versteht. Kurz: Ich bin ein Schmuddelkind der Facebook-Familie mit weltweit 150 Millionen Mitgliedern, eine Schande für jede Freundesliste. Ein Outcast des Web 2.0.
Für alle, die noch im medialen Mittelalter leben und statt Mails Briefe schreiben: Portalseiten wie Facebook und StudiVZ zeichnet aus, dass sie die Besitzer von Profilen mit Angaben zur Person und (im Optimalfall!) vorzeigbaren Fotos vernetzen. Hier kann gechattet, gemailt, nach alten Bekannten gesucht, eine Befindlichkeitsmeldung in die virtuelle Welt posaunt oder einfach nur im veröffentlichten Leben der anderen spioniert werden. Was diese Seiten einzigartig mache, so Danah M. Boyd von der School of Information der Universität in Berkeley, Kalifornien, „ist nicht, dass sie Menschen erlauben, neue Kontakte zu knüpfen, sondern dass sie bestehende soziale Netzwerke nachvollziehbar machen“. Du sagst mir, welche Freunde du hast, und ich sage dir, welcher Mensch du bist.
Das Prinzip ist so erfolgreich, dass sich Facebook vom Hobbyprojekt des Harvard-Studenten Marc Zuckerberg innerhalb von nur vier Jahren zum weltumspannenden Poesiealbum mit zweistelligem Milliardenwert mauserte. „Es ist die ideale Bühne, um sich im Internet zu präsentieren“, so Eck. Und genau das werde mittlerweile von jedem Einzelnen erwartet. Kommunikation sei heute ein permanenter Bewerbungsprozess. Nicht umsonst würden viele Personalabteilungen deshalb die Namen ihrer Bewerber googeln oder auf Social-Networking-Seiten das jeweilige Profil nach peinlichen Sauf- und Partybildern durchforsten – ein klares Ausschlusskriterium. Größe und Art des Freundeskreises sagen angeblich etwas über die „Social Skills“, die der Bewerber mitbringt.
Dem zugrunde liegt ein Bild vom Menschen, das nicht mehr zwischen Privat- und Arbeitssphäre unterscheidet. Er ist gläsern, ganz und gar flexibel. Er arbeitet zu Hause und am Wochenende und beantwortet im Büro seine Privat-Mails. Er ist mobil, für jeden stets erreichbar, überinformiert und beweist sich und einer oft eingebildeten Öffentlichkeit die eigene Bedeutung, indem er via Blackberry, Twitter und ständig aktualisierter Statusanzeige im Facebook-Profil Meldungen verschickt, die wenig mehr sagen als: Ich bin wichtig, ich existiere! Was im Internet- und Kommunikationszeitalter alles so im Internet kommuniziert wird, will aber im Grunde keiner lesen.
Was interessiert mich, dass Freund eins gerade einen „moralischen Platten hat, weil er sich von der Welt überfahren fühlt“, während sich Freundin zwei öffentlich darüber beschwert, dass sie nicht in ihr Karnevalskostüm passt: „Dabei hab ich im Internet extra Größe L bestellt.“ Auch führen Kontaktanfragen der Sorte: „Alles fit im Schritt?“ eines alten Schulkameraden, den ich zu Recht vergessen habe, ganz sicher nicht dazu, dass ich mich mit ihm austausche, weder im virtuellen noch im realen Leben. „Zu hoffen, dass eine mittelbare Kommunikation automatisch auch in eine Gesprächssituation von Angesicht zu Angesicht mündet, ist“, so der britische Anthropologe Robin Dunbar, „wie das falsche Versprechen vom papierlosen Büro.“ Trotz moderner Textverarbeitungssysteme wird sinnlos ausgedruckt, was sich ausdrucken lässt. Genauso posten und chatten wir nur zu einem Zweck: um es wieder löschen zu können.
Man könnte es sich leicht machen und die Flut der Belanglosigkeiten mit Marshall McLuhans fast zu Tode zitiertem Spruch von dem Medium erklären, das „die Botschaft“ ist, und es wäre nicht einmal falsch. Die technischen Möglichkeiten bestimmen heute die Kommunikation, nicht umgekehrt. Wir twittern, weil es machbar ist, nicht weil wir etwas zu sagen haben. Doch dafür sind diese Technologien nicht konzipiert. Sie sollen vielmehr, so Buchautor Klaus Eck, „eine sehr individuelle und spezialisierte Kommunikationspolitik ermöglichen“. Das klingt gut, aber Individualität wird oft mit Trivialität verwechselt. Aus der Schwemme an Nullbotschaften spricht die Überforderung vieler flexibler Menschen, die Technik so einzusetzen, dass sie einem das kostbarste Gut der Lebensarbeitswelt schenkt: Zeit.
Die Grenzen zwischen Handy und Internet verschwimmen. Technik macht Kommunikation schneller, aber auch flacher. Und gewichtsflexible Menschen wie meine Freundin mit der Größe L geben oft Informationen von sich preis, die sie früher sicher lieber für sich behalten hätten. „Der flexible Mensch“, so Miriam Meckel, Professorin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen, „ist im doppelten Sinne entsichert. Sein Leben ist so beschleunigt, dass viele Möglichkeiten auf der Strecke bleiben, die helfen könnten, Entscheidungen zu gewichten und Fehler zu vermeiden. Sein Leben ist so abgekoppelt von Bezugspunkten und Bindungen, dass ihm Selbstvergewisserung und Orientierung zunehmend schwerfallen.“
Social-Networking-Seiten werden von Nutzern als Erweiterung der Intimsphäre verstanden und nicht als deren schleichendes Ende. Anfänglich war Facebook ein Ort, an dem Studenten ihre Sauf- und Sexgeschichten austauschten in der Hoffnung, dass nur die es mitbekommen, die es mitbekommen sollen – eine Fehleinschätzung. Mehr noch: Der Bruch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist das Erfolgsprinzip von Social Networking. Jeder ist Voyeur, jeder kann aber auch von jedem potenziell beobachtet werden, selbst wenn er es nicht wahrhaben will.
„Im Internet gibt es keine Privatsphäre, keine Sicherheit“, sagt Klaus Eck. „Was einmal veröffentlicht wurde, bleibt öffentlich, weil sich Informationen, egal welche, so schnell weiterverbreiten, dass sie sich nicht kontrollieren lassen.“ Es gibt keinen Großen Bruder, der seine Internetgemeinde lenkt und ihr auf die Finger schaut. Dafür gibt es viele kleine, die ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung freiwillig aufgeben und – schlimmer noch – diese Freiwilligkeit gar zum Kennzeichen einer idealisierten Flexibilität machen. „Latitude“, ein Programm aus dem Hause Google, ermöglicht es beispielsweise allen Nutzern, die ein Smartphone haben, permanent ihre genaue Position auf einer Landkarte im Internet zu markieren. Einen Sinn hat das nicht, außer dem, nicht nur ständig erreichbar, sondern auch verortbar zu sein. Für wen? Ist doch egal, für jeden, den es interessiert, und – vor allem – für jeden, den es nicht interessiert. Der flexible Mensch schreit es unbewusst hinaus: „Ich will überwacht werden, und zwar sofort!“
Wieder einmal überholt die Realität die Fiktion. Als Regisseur Ron Howard 1998 mit „Ed-TV“ einen Film über einen Verlierer machte, der sich freiwillig von einem Fernsehteam überallhin begleiten lässt, hielten es nur die schlimmsten Medienpessimisten für möglich, dass bereits ein Jahr später mit „Big Brother“ die Filmidee nicht nur Wirklichkeit, sondern alles noch viel schlimmer werden konnte.
Latitude ist die Fortsetzung eines Kunstprojekts mit optimierten technischen Mitteln. Seit sechs Jahren veröffentlicht Hasan Elahi aus Oakland, Kalifornien, sein komplettes Leben auf seiner Website: Wo er ist (und isst), was er ist (und isst), welche Toiletten er benutzt hat und wann, samt Fotobeweis. Entstanden ist das Projekt als „permanentes Alibi“, denn nach den Anschlägen vom 11. September stand der in Bangladesch geborene Amerikaner zu Unrecht unter Terrorverdacht.
Der Rechtfertigungsdruck von außen, das zeigt das Projekt, geht irgendwann über in einen Rechtfertigungszwang von innen, der keinen Anlass mehr braucht. Er wird paranoid. Aber ist das überhaupt das Leben des Hasan Elahi? Er selbst ist nie als Person zu sehen auf seiner Webseite. Irgendjemand oder niemand könnte die Toiletten benutzt haben. Der virtuelle Hasan Elahi ist möglicherweise eine Kunstfigur, die mit der Realität so viel zu tun hat wie ein meist geschöntes Facebook-Profil mit seinem Besitzer. Daraus ergibt sich eine Frage: Welche Identität ist wahrer, die reale oder die veröffentlichte?
Elahi weiß darauf keine Antwort, oder er verrät sie nicht. Auch ich bin ratlos, kann aber persönlich mit meiner veröffentlichten Persönlichkeit gut leben. Statt eines Fotos schaut mich bei Facebook als Platzhalter für mein nicht vorhandenes Konterfei ein grauer Schattenriss an. Mein Profil sagt: Es gibt mich! Nicht mehr. Für mich jedoch ist der Aussagewert dieser Information absolut zufriedenstellend.