Die Kontroverse um eine Aussage zum Kreuzestod Jesu in einer WDR-Rundfunkandacht zieht weite Kreise. Superintendent i.R. Burkhard Müller (der zu seinen Bonner Gemeindepfarrer-Zeiten überdurchschnittlich positiven Gemeindeaufbau leistete; Anm. VC-Red.) redet nicht lange um den heißen Brei herum. »Ich glaube nicht, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist«, sagte Müller in einer WDR-Radioandacht. Kurz vor Ostern löst er mit dieser Äußerung zu einem Kern der christlichen Botschaft vielfältige Reaktionen aus.
Eine Lawine losgetreten
»Da haben Sie aber eine Lawine losgetreten«, schreibt ein Hörer in einem Internet-Forum, und ein anderer bekennt: »Sie schaffen es auf ungewohnte Art, etwas für meinen Blutdruck zu tun.« Hunderte Anrufe, Briefe und E-Mails gingen nach der fünfteiligen Andachtsreihe zum Kreuzestod Jesu im Februar im Büro des Evangelischen WDR-Beauftragten in Düsseldorf ein. Die Reaktionen, die noch immer nicht abreißen, bewegen sich zwischen Entsetzen und Begeisterung.
Manche sind schockiert und werfen dem 70-jährigen Müller Verzerrung, Scharlatanerie und Irrlehren vor. Andere danken dem ehemaligen Sprecher des »Wortes zum Sonntag«. Eine Frau schreibt: »Es hat mir in meiner Kindheit schon große Schuldgefühle und Traurigkeit gemacht, dass der arme Jesus schon vorausschauend für meine armseligen ‚Sünden‘ elend am Kreuz umkommen musste.«
Deutung des Todes Jesu in der Diskussion
Die Deutung des Todes Jesu ist umstritten – auch in der Theologie. Dass die Emotionen derart hoch gehen, findet der Heidelberger Theologe Gregor Etzelmüller verständlich: Es gehe schließlich um zentrale Glaubensaussagen und die persönliche Frömmigkeit, auch das Abendmahl als zentraler christlicher Ritus sei berührt.
Gestritten wird darum, ob der Tod Jesu ein stellvertretendes Sühneopfer für die Sünden der Menschheit war – eine wichtige Glaubensaussage christlicher Bekenntnisschriften.
Sie wurde in der Geschichte des Christentums wiederholt in Frage gestellt. Der Disput der letzten Jahre entzündete sich vor allem an Büchern des Theologen Klaus-Peter Jörns mit den bezeichnenden Titeln »Notwendige Abschiede« und »Abschied vom Sühnopfermahl«.
Zorniger oder liebender Gott?
Jörns wendet sich, wie zuvor feministische Theologinnen, gegen die Vorstellung eines zornigen Gottes, der den Tod seines Sohnes brauche, um vergeben zu können. Dies widerspreche der unbedingten Liebe Gottes.
Den Vertretern einer Opfertheologie werden Gewaltverklärung und ein »sadistisches Gottesbild« vorgeworfen.
Die Kritiker der Sühnopfer-Deutung wiederum müssen sich vorhalten lassen, sie banalisierten den Glauben und argumentierten verquer und historisch unaufgeklärt. Ohne den Opfergedanken verliere der Tod Jesu seine besondere Bedeutung.
Billige Gnade statt Sühne?
Konservative Theologen befürchten auch, dass Sühnegedanken zu schnell und glatt ad acta gelegt werden und einer »billigen Gnade« das Wort geredet werden könnte.
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, glaubt nicht, dass Jesus am Kreuz stellvertretend die Strafe der Menschen auf sich genommen hat. Gott brauche kein Sühneopfer, »denn es muss ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden«.
Die Menschen bräuchten die Botschaft vom Kreuz vielmehr »als Zeichen für Gottes Liebe und Solidarität, als Symbol für das Mitgehen Gottes mit uns durch den Tod hindurch«, sagt der leitende Theologe der zweitgrößten deutschen Landeskirche. Das Kreuz sei »der schwere Weg hin zur Auferstehung«.
Pfarrer können ziemlich frei interpretieren
Schneider räumt aber ein, in der Bibel gebe es verschiedene Deutungen des Zusammenhangs von Kreuz und Auferstehung, entsprechend frei könne das Kreuzigungsgeschehen von den Pfarrern interpretiert werden.
Auch das Leitende Geistliche Amt der hessen-nassauischen Kirche stellte im vergangenen Jahr in einem Grundsatzdokument fest, dass das Kreuz nach wie vor verschieden gedeutet werden könne, die opfertheologischen Aussagen seien eine dieser Möglichkeiten.
Weiter heißt es: »Wie Jesus selbst seinen Gang in den Tod und sein Sterben aufgefasst hat, wissen wir nicht.«
Mindest-Konsens: Es geht nicht um Gottes Beschwichtigung
Für Etzelmüller täuschen die mitunter rauen Töne in dem Disput darüber hinweg, dass sich in den letzten Jahren »ein gewisser Konsens« eingestellt habe.
Die neuere Theologie sei sich weitgehend einig, dass der Tod Jesu nicht den Zorn Gottes beschwichtigen solle. Das sei ein Abschied von der mittelalterlichen »Satisfaktionstheorie« des Theologen und Philosophen Anselm von Canterbury.
Auch die neuere Sühnopfertheologie betont laut Etzelmüller Gottes »Heilshandeln am Menschen« durch den Tod Jesu. Dabei sei Jesus in erster Linie »aktiv handelndes, versöhnendes Subjekt«. Für die Zukunft hofft Etzelmüller auf weiteren Konsens. Denn Theologie sei »eine Form der Wahrheitssuche«.
Q‘: epd (Ingo Lehnick)