Christen ohne Christus – Paradox: Immer mehr nichtreligiöse Männer sind der Kirche verbunden

maennerstudie_introVon Michael N. Ebertz für zeitzeichen (6/2009) – Die kirchliche Bindung der Männer wächst, aber an Gott glauben sie weniger. Das ist das überraschende Ergebnis der Studie „Männer in Bewegung“, die die Männer­arbeit der EKD und die Gemeinschaft katholischer Männer Deutschlands in Auftrag gegeben haben. – „Ei, wo laufen sie denn?“, so ist man angesichts des Titels der zweiten großen Männerstudie der kirchlichen Männerarbeit versucht zu fragen, und möchte ergänzen: Laufen sie inzwischen den Frauen in Sachen Religion den Rang ab? Sind die Männer nach ihrem Aufbruch, den die erste große Männerstudie… vor zehn Jahren unterstellte, in den kirchlichen Gemeinden und Vereinen wieder angekommen, haben sie inzwischen die religiösen Aufgaben in der Familie übernommen und missionieren sie für Gott in der Welt?

Ernüchterung

Zunächst folgt die Ernüchterung, wenn man im Blick auf das Engagement in Parteien, kirchlichen und karitativen Vereinen schon in der ersten Hälfte der Studie liest, es treffe „die alte Regel noch zu: Religion ist weiblich, Politik männlich“. Freilich ist der Befund abhängig davon, was unter Religion, dem Christentum und der Kirche, unter dem Religiösen, dem Christlichen und Kirchlichkeit verstanden wird. Schon „Religion“ ist nicht leicht zu definieren und kann deshalb wie „das Religiöse“ vielfältig begriffen werden: substantialistisch, also unter Betonung eines spezifischen, vom Nichtreligiösen unterscheidbaren Gehalts, oder funktionalistisch, also im Blick auf die Wirkungen und Leistungen hinsichtlich ganz bestimmter individueller oder gesellschaftlicher Bezugsprobleme.

„Ohne zentrale Fragestellung oder theoretischen Leitfaden“

Von all dem finden wir etwas in der vorliegenden Studie, die sich zumindest passagenweise wie eine hastig zusammengestellte Collage aus Tabellen, Abbildungen, Zitaten, assoziativen Deutungen, Vermutungen, Thesen, Fragen und Empfehlungen zur Praxis präsentiert – ohne zentrale Fragestellung oder theoretischen Leitfaden. So heißt es etwa: „Religionsexperten vermuten, dass sexuelle Ekstase für eine wachsende Zahl einen Teil jener religiösen Energie der Menschen bindet, die früher in der Religion selbst aufgehoben und domestiziert worden war. Das Orgiastische ist für Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eine der wichtigsten Transzendenzerfahrungen geworden: für manche sogar zur einzigen.“ Schön wäre es, man hätte eine solche Beobachtung in irgendeiner Form eingeordnet.

Substantialistisch gesehen, können wir Religion als solche (normativ festgelegte) rituelle Praktiken und (häufig auch in einer Lehre schriftlich verfasste) Überzeugungen definieren, die das individuelle und kollektive Leben auf einen heiligen und/oder transzendenten Bezugspunkt ausrichten. „Religiosität“ kann dann als die in Einstellungen, Vorstellungen sowie Erlebens- und Verhaltensweisen beschreibbare, subjektiv gelebte Praxis von Religion verstanden werden, gleichgültig, ob und inwiefern diese mit den normativ festgelegten Überzeugungen und Riten übereinstimmen.

Die vorliegende Studie spricht hier ziemlich uneindeutig in Metaphern und versteht unter „Religiosität“ „eine Art existenzieller Energie, mit der eine Person mehr oder weniger ausgestattet sein kann“, während sie unter „Religion“ die „kognitive Seite der persönlichen Religiosität“ versteht, den vorgefundenen und selbst gezimmerten „Glaubenskosmos“.

Der Gott der Atheisten?

Gemäß der Selbsteinschätzung der repräsentativ Befragten – 1470 Männer und beinahe 970 Frauen – bezeichnen sich 41 Prozent der Antwortenden als religiös, beinahe ebenso viele (39 Prozent) halten sich für unreligiös und 19 Prozent sogar für atheistisch. Obwohl die Studie nicht zu klären vermag, was die Befragten unter „Atheismus“ verstehen, und auch noch Irritationen auslöst, weil „eine beachtliche Zahl von ‚überzeugten Atheisten‘ einem personalen Gott zustimmt“ und „Christ zu sein“ vorgibt, nimmt sie diese – angesichts der Aktualität des Themas wirklich bedauerliche – empirische und „theoretische Schwäche“ in Kauf, „um die Daten zwischen den Erhebungen 1998 und 2008 vergleichen zu können“.

Dieser Vergleich zeigt einen enormen Zuwachs von „überzeugten Atheisten“ unter den Frauen von 6 auf 16 Prozent und mehr noch unter den Männern, nämlich von 11 auf 24 Prozent. Während der Anteil der sich als „religiös“ Selbsteinschätzenden unter den Männern mit einer Veränderung von 37 auf 39 Prozent weitgehend stabil geblieben ist, hat sich derjenige unter den Frauen von 53 auf 43 Prozent dem männlichen Niveau weitgehend angenähert.

Die „Religiösen“ sind inzwischen also in beiden Geschlechtern in einer Minderheit, während die „überzeugten Atheisten“ zusammen mit den „Unreligiösen“, welche die Studie eine „abgemilderte Variante der Atheisten“ nennt, die Mehrheit stellen.

Unterscheidet man nach Rollentypen – und dies ist eine Spezialität der beiden kirchlichen Männerstudien ? stellen die „Religiösen“ nur noch eine Mehrheit unter den so genannten „Teiltraditionellen“, also unter denjenigen Männern und Frauen, die überwiegend an der traditionellen Geschlechterordnung orientiert sind.

Emanzipierte Männer weniger religiös

Diejenigen Männer und Frauen, die diese Geschlechterordnung dezidiert ablehnen, stellen den Gegentypus, die „Modernen“ dar und sind ihrer Selbsteinschätzung gemäß am wenigsten religiös. Sie haben 2008 auch die höchsten Atheistenanteile. Mit Prozentwerten dazwischen liegen auch die beiden Zwischentypen, die entweder traditionelle wie moderne Rollenbilder pragmatisch verknüpfen („Balancierende“) oder traditionelle Rollenbilder ablehnen und mit neuen Rollenbilder (noch) nichts anfangen können.

Überraschend ist, dass dieser Atheistenanteil unter den 17- bis 19-jährigen Männern unterdurchschnittlich (19 Prozent) und der Anteil der „Religiösen“ in der gleichen Altersklasse überdurchschnittlich (42 Prozent) ist. Nimmt nämlich die Religiosität mit den Alterskohorten von den 70- bis 79-Jährigen in Richtung Jüngere sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen deutlich ab, legt sie bei den jüngsten männlichen Befragten zu: Bei den 20- bis 29-Jährigen bezeichnen sich 25 Prozent als religiös, bei den Jugendlichen bis 19 Jahren sind es 42 Prozent. Vielleicht sollte der Titel der Studie besser heißen: „Jugendliche Männer in Bewegung“?

Dieser Befund, den die Studie wohl auch deshalb nicht weiter vertieft, weil die Fallzahlen der unter 19-Jährigen „ziemlich klein“ sind, erstaunt umso mehr, als sie zugleich eine „in den letzten zehn Jahren deutlich rückläufige“ religiöse Erziehung konstatiert, und insbesondere den zunehmenden Ausfall der Mütter und Großmütter als „Hauptträgerinnen der Tradierung von Religiosität, Religion und Kirchlichkeit“ feststellt.

Glaube kein vorrangiges Erziehungsziel mehr

Überhaupt wird in den Familien wenig gebetet, „fester Glaube“ rangiert als Erziehungsziel unter „ferner liefen“, und gemeinsame religiöse Überzeugungen haben auch für das Eheband keine hohe Bedeutung mehr. Die Bereitschaft der Befragten, sich an der religiösen Erziehung des eigenen Nachwuchses zu beteiligen, ist wenig ausgeprägt. Lieber delegiert man die offensichtlich an die Kirche.

Die Autoren der Studie haben, wenn es um die Deutung der durchaus widersprüchlichen Daten geht, eher spannende Fragen statt empirisch abgesicherte Antworten parat: Laufen religiöse Sozialisationen heute anders ab, müssen wir zunehmend von ganz anderen Orten der „Kontrasozialisation“ und von einer erschöpften Säkularität gerade bei denjenigen ausgehen, die „führend im Prozess der letzten ‚Säkularisierung'“ waren?

„Religionskomponisten“…

Die Studie zeigt: Wer sich in Deutschland für einen religiösen Menschen hält, hat entweder Züge eines „Religionskomponisten“ oder lässt sich mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit immer noch den Christen zurechnen.

Unter den Christen unterscheidet man zwischen den „modernen Christen“, die ihr Christsein mit einer positiven Einstellung zur Wissenschaftlichkeit verbinden, und den „vormodernen Christen“, die eine säkulare Wissenschaftsgläubigkeit ablehnen. Diese beiden Typen von Christen dominieren unter den „teiltraditionellen“ und den „suchenden“ Männern wie Frauen, während die „Wissenschaftsgläubigen“ bei den „Modernen“ vorherrschend sind.

…und „Atheisierende“

Die „Wissenschaftsgläubigen“ glauben vielleicht noch an eine „höhere Kraft, aber nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche beschreibt“ (18 Prozent). Dies vermag kaum zu überraschen, dagegen mache „nachdenklich“, so die Studie wörtlich, dass es unter den „modernen Christen 10 Prozent? und „unter den vormodernen Christen 20 Prozent Atheisierende gibt“.

Noch erstaunlicher mag ein doppelter Befund sein: dass inzwischen nicht einmal mehr jeder Vierte in Deutschland (22 Prozent) und „lediglich rund 30 Prozent der Kirchenmitglieder“ im Sinn der christlichen Kirchen an einen Gott glauben, „der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“. Zudem, so die Studie an gleicher Stelle weiter, „bezeichnen sich 21 Prozent der Protestanten sowie 22 Prozent der Katholiken als atheistisch“.

„Nicht alle Protestanten und Katholiken sind auch Christen.“

Angesichts dieser massiven Krise des christozentrischen Gottesglaubens formuliert die Studie noch verhalten: „Nicht alle Protestanten und Katholiken sind auch Christen.“ Und man fragt sich nicht nur, wie ein solches Christentum ohne Christus funktioniert, sondern auch, was die Mehrheit der Kirchenmitglieder an ihrer Kirchenmitgliedschaft festhalten lässt und wie sie diese interpretieren?

Das Staunen geht weiter: „2008 haben sich 29 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frauen als kirchenverbunden bezeichnet. Zehn Jahre zuvor lagen die Werte bei den Männern deutlich niedriger (16 Prozent; Frauen 24 Prozent). Das kommt nahezu einer Verdopplung des Wertes bei den Männern gleich: ein weiteres Indiz der gewachsenen Kirchenorientierung bei Männern 2008. Männer haben sich damit der Kirchenverbundenheit der Frauen angenähert.“

Zwar haben wir es, nüchtern betrachtet, mit Minderheiten zu tun, die solche Verbundenheiten zum Ausdruck bringen. Doch hat sich dieser Zuwachs an Kirchenverbundenheit immerhin bei allen vier Männertypen vollzogen, am schwächsten bei den „Modernen“ (9 auf 15 Prozent), am stärksten bei den „Balancierenden“ (von 13 auf 34 Prozent).

Wachsende Sympathie für die Kirche

Auch die kirchlichen Sympathiewerte bei den Konfessionslosen weisen – wenn auch verhalten – in diese Wachstumsrichtung. Die Zustimmung zur Aussage: „Die Kirche ist mir Heimat“ zeigt eine ähnliche Tendenz. Nisten sich also immer mehr atheistische und unreligiöse Männer (und Frauen) in der Kirche ein und haben damit auch noch ein Wohl- und Sicherheitsgefühl, ohne dass ihre Glaubensgewissheit wächst?

Die Autoren der Studie vermuten, dass dieses wachsende „Belonging without Believing“ auf die starke kulturelle Verwurzelung des Christentums zurückzuführen ist, die angesichts „der Begegnung Europas mit dem Islam“ eine neue kulturchristliche Werteaufladung erhält, die nicht unbedingt mit „Glaubensstärke“ gleichzusetzen sei. Hinzu kommt eine wachsende Wertschätzung förderlicher Einflüsse der Kirchen auf das Leben.

Diese in den Gesamtwerten von 1998 und 2008 beobachtbare „neue Wertschätzung der Kirche für das Leben“ werde „durch eine Aufschlüsselung nach Alter noch eindrucksvoller: Gegen alle Aussagen über die wachsende Distanz junger Menschen zur Kirche hat nämlich gerade bei den jüngeren Altersgruppen die Kirche an förderlichem Einfluss dazu gewonnen“.

Freilich ist festzustellen, dass mehr als die Hälfte der befragten Männer auch 2008 angibt, dass die Kirche auf ihr Leben keinen Einfluss habe (30 Prozent), dieser als störend erlebt werde (6 Prozent) oder gar nichts von ihm zu merken sei (15 Prozent), was – in der Summe – insbesondere für den Typus der „modernen Männer“ gilt (63 Prozent). Dennoch ist die von der Studie registrierte „diskrete Zuwendung zu den Kirchen“ auch nicht wegzudiskutieren.

„Kirche als familienförderliches Dienstleistungssystem erschließen.“

Indem Männer im Wandel der Rollenverteilung von Männern und Frauen zunehmend Aspekte der traditionellen Frauenrolle übernehmen, indem sie sich verstärkt an den Erziehungsaufgaben beteiligen und in die häusliche Kinderbetreuung einbringen, scheinen sie tatsächlich in Bewegung zu geraten, sich notwendigerweise auch wieder die Kirche als familienförderliches – Familien stützendes und Familien entlastendes – Dienstleistungssystem und als krisenfeste Gemeinschaft vor Ort zu erschließen. Das muss für sie noch keine Glaubensgemeinschaft sein, aber ein Partner, den man gern akzeptiert, weil er niemanden überfordert.

LITERATUR:
Rainer Volz / Paul M. Zulehner: ­Männer in Bewegung. Zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland, Nomos Verlag, Baden-Baden 2009, Euro 49,-.

W e b l i n k :

„Männer in Bewegung“: Männerstudie