Sie schafften eine Riesenüberraschung bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus am 18. September in Berlin: die „Piraten“. Mit 8,9 Prozent zog die 2006 gegründete Partei erstmals in ein Landesparlament ein und erreichte einen wesentlich höheren Stimmenanteil als von Demoskopen erwartet. Doch wofür steht die Partei – abgesehen von der Forderung nach totaler Internet-Freiheit? Wie hält sie es mit der Religion?
Im Wahlprogramm des Landesverbandes Berlin sind dem Thema Staat und Religion zwei Seiten gewidmet. Danach versteht die Partei „unter Religionsfreiheit nicht nur die Freiheit zur Ausübung einer Religion, sondern auch die Freiheit von religiöser Bevormundung“. Die weltanschauliche Neutralität des Staates herzustellen, sei notwendige Voraussetzung für die gedeihliche Entwicklung des Gemeinwesens. Die Piraten plädieren für einen „säkularen Staat“, der religiöse und staatliche Belange strikt trenne. Dazu heißt es: „Finanzielle und strukturelle Privilegien einzelner Glaubensgemeinschaften, etwa im Rahmen finanzieller Alimentierung, bei der Übertragung von Aufgaben in staatlichen Institutionen und beim Betrieb von sozialen Einrichtungen, sind höchst fragwürdig und daher abzubauen. Im Sinne der Datensparsamkeit ist die Erfassung der Religionszugehörigkeit durch staatliche Stellen aufzuheben; ein staatlicher Einzug von Kirchenbeiträgen kann nicht gerechtfertigt werden.“
Selbstbestimmung sexueller Identität
Die Partei nimmt auch zur Geschlechter- und Familienpolitik Stellung. Sie stehe „für eine Politik, die die freie Selbstbestimmung von geschlechtlicher und sexueller Identität bzw. Orientierung respektiert und fördert“. „Fremdbestimmte Zuordnungen zu einem Geschlecht oder zu Geschlechterrollen“ werden abgelehnt. Gesellschaftsstrukturen, die sich aus Geschlechterrollenbildern ergeben, seien zu überwinden. Die Partei wendet sich gegen die „Erfassung des Merkmals ‚Geschlecht’ durch staatliche Behörden“. Sie setzt sich ferner für die vollständige rechtliche Gleichstellung von Ehe und eingetragener Partnerschaft von Homosexuellen ein.
Gemeinsamkeiten mit den Kirchen beim Thema Bildung
Gemeinsamkeiten mit den Kirchen bestehen beim Thema Bildung. So setzen sich die Piraten wie die beiden großen Kirchen für eine gleichberechtigte Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft ein: „Schulen in staatlicher wie auch solche in freier Trägerschaft müssen in allen Feldern die gleichen Förderungsmöglichkeiten erhalten. So sollten auch Schulen in freier Trägerschaft ohne Schulgeld zugänglich sein.“ Außerdem fordert die Partei, dass Schüler aller Stufen ein kostenloses Mittagessen an den Schulen erhalten.
Bischof Dröge: Piraten-Wähler wollen Transparenz
Der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge, sprach gegenüber idea von einem „beachtlichen Wahlerfolg“ der Piraten-Partei. Sie habe Wähler gewonnen, die Transparenz in der Politik wollten. Doch die Kandidaten hätten sich inhaltlich in viele Themen noch nicht eingearbeitet. Im Blick auf das Wahlprogramm erklärte Dröge: „Religion ist etwas sehr Persönliches, aber keine Privatsache. Welche Werte und welche Orientierung der Glaube gibt, ist auch für das Gemeinwohl relevant.“ Das Gemeinwesen beruhe darauf, dass es viele gesellschaftliche Gruppen mitgestalteten. „Der Piraten-Partei, die sich für Vielfalt und Freiheit in anderen Bereichen einsetzen, müsste dieser freiheitliche Gedanke unserer Verfassung vertraut sein“, so Dröge.
Piraten bei Konfessionslosen stark
Ihren Erfolg in Berlin verdanken die Piraten vor allem Konfessionslosen. In dieser Wählergruppe erreichten sie elf Prozent. Das geht aus einer Wahlanalyse des Instituts Infratest dimap (Berlin) im Auftrag der ARD hervor. Unterdurchschnittlich war das Ergebnis bei Protestanten (6 Prozent) und Muslimen (4 Prozent). Bei den Katholiken errang die Partei 9 Prozent, was ihrem Gesamtergebnis entspricht. Bei der Wahl wurde die SPD mit 28,3 Prozent wieder stärkste Kraft vor der CDU (23,4 Prozent), Bündnis 90/Die Grünen (17,6 Prozent), der Partei „Die Linke“ (11,7 Prozent) und den Piraten. Die FDP scheiterte mit 1,8 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.
CDU stärkste Kraft bei Kirchenmitgliedern
Von den evangelischen Wählern stimmte fast jeder dritte für die Union (32 Prozent); das waren zwei Prozentpunkte mehr als 2006. Bei den Katholiken kam die CDU auf 40 Prozent (+4) und bei den Konfessionslosen auf 17 Prozent (+4). Lediglich bei den Muslimen mussten die Christdemokraten Einbußen (3 Prozent/-5) hinnehmen. Die SPD wurde bei den Protestanten zweitstärkste Kraft (30 Prozent/-2). Von den katholischen Wählern entschied sich jeder Fünfte für die Sozialdemokraten (-7). Am beliebtesten sind sie bei den Muslimen (42 Prozent/-4). Bei den Konfessionslosen erreichte die SPD 28 Prozent. Bündnis 90/Die Grünen konnte am stärksten bei den Muslimen zulegen (21 Prozent/+13). Überdurchschnittlich schnitt die Partei auch bei den Evangelischen ab (19 Prozent/+6) ab. Weniger deutlich waren ihre Zuwächse bei Katholiken (18 Prozent/+3) und Konfessionslosen (17 Prozent/+4). Die Partei „Die Linke“ stützt sich vor allem auf Wähler ohne Kirchenbindung (17 Prozent/-5). Leicht zulegen konnte sie bei den Evangelischen (5 Prozent/+1), während es bei den Katholiken keine Veränderung gab (3 Prozent). Am wenigsten Zuspruch fand die Linkspartei bei den muslimischen Wählern (2 Prozent/-11). Die beiden christlichen Kleinparteien AUF (Arbeit, Umwelt, Familie) und PBC (Partei Bibeltreuer Christen) waren nicht angetreten. Berlin gilt als die am meisten entchristlichte Großstadt in Deutschland. Von den 3,4 Millionen Einwohnern sind 60 Prozent konfessionslos, 19 Prozent evangelisch, neun Prozent katholisch und sieben Prozent muslimisch.
idea, 20.9.2011