Die Predigt als Mittel der Umstimmung?

Von Michael Trowitzsch (Prof. em. Dr., Jahrgang 1945, bis 2010 Prof. für Syst. Theologie in Jena). – Für ein dankbares Schauen auf die Wohltaten Gottes an uns statt eines ängstlichen Starrens auf Defizite wirbt Michael Trowitzsch. Dies würde nicht nur unsere Grundgestimmtheit, sondern auch die Theologie, unsere Kirche und unsere Predigten verändern…

Ein Klavier wird gestimmt, eine Geige wird gestimmt, ein Cello. Ein Mensch ist so und so gestimmt, traurig gestimmt, erwartungsvoll, zufrieden, abenteuerlustig, »in Stimmung« oder »gerade nicht in Stimmung«. Eine Hochzeitsgesellschaft ist verschieden gestimmt, in verschiedenen Arten der Rührung (er 25, sie 19; oder, eine sehr andere Rührung, er 85, sie 82). Eine Reisegesellschaft, Ziel Gardasee, ist unterschiedlich gestimmt: jetzt am Tag des Aufbruchs, jetzt bei der Heimfahrt (am Hermsdorfer Kreuz). Sogar ein Staat, seine gesellschaftliche Atmosphäre zu bestimmter Zeit, ist gestimmt, in einer Art Grundstimmung. Sind die Dänen anders gestimmt als die Bulgaren? War die DDR grundsätzlich anders gestimmt als die Bundesrepublik? Sicher war das so, aber vielleicht nicht so leicht genau zu beschreiben. Um so mehr befinden sich große Epochen verschieden: Anders ist die Antike grundgestimmt als die Neuzeit.

Und Umstimmungen? Umstimmungen – natürlich gibt es das – sind mal leicht, mal schwierig zu bewerkstelligen. Ist es schwierig, ein trauriges Kind zum Lachen zu bringen? Ist es leicht, eine Runde in einer Kneipe durch den Ruf »Freibier für alle« in Stimmung zu bringen? Denkbar ist es schon, jemanden, der zu etwas fest entschlossen ist, noch einmal umzustimmen, aber sicher ist es nicht einfach. Wo liegt denn das Grundvertrauen eines Menschen? Ist er von Grund auf umzustimmen, sein Grundvertrauen zu verändern? Er würde dann wohl wirklich ein anderer, sein Leben würde die Richtung ändern. Ausgeschlossen jedenfalls ist das nicht.

Jeden Tag bin ich, genau genommen, ein wenig anders gestimmt (wenn man einmal darauf achtet, fällt es einem auf), ein wenig anders mindestens, manchmal sehr anders. Wie der Tag wird, wovor ich zurückschrecke, was ich mir vornehme – es hat auch damit zu tun, mit welchem Fuß, wie wir sagen, ich morgens zuerst aufgestanden bin. Geradezu öffnet sich mir der Tag je anders. Nehmen wir den »ausgeschlafenen Typ« – die Welt eröffnet sich ihm dann anders als für den immer nur gelangweilten Typ.

Gestimmtsein ist früher als Denken, früher als Handeln. Die Stimmung ist die Pforte des Weltzugangs. Sicher, die Laune gehört auch dazu. »Sie ist morgens mit dem falschen Fuß aufgestanden«, flüstert die Kollegin der anderen zu. Oder: Er hat mal wieder schlechte Laune, der launische Chef, die schlechtgelaunte Sekretärin, der Ehepartner, der Schriftsteller Thomas Bernhard (der »Gott der schlechten Laune«). Oder, ganz anders: »Du bist ja heute so gut drauf!«

Martin Heidegger hat in seinem Buch »Sein und Zeit« die Gestimmtheit geradezu ein »Existential« des menschlichen Seins genannt, will sagen: Sie ist aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken. Immer schon und unausweichlich bin ich so oder so gestimmt, befinde ich mich so oder anders, kommt darum die Welt im ganzen auf diese oder auf jene Weise auf mich zu. Also: Kein Bereich der äußeren Welt kommt ohne Gestimmtheit zum Menschen, und im Medium der Stimmung (Heidegger spricht von »Befindlichkeit«), wie es ihm also im Grunde jeweils zumute ist, wird der Mensch auch über sich selbst verständigt und kommt er in die Lage, sich überhaupt auf die Welt zu richten. Kann ich meine Befindlichkeit, die jeweilige Gestimmtheit beeinflussen, kann ich ihrer Herr werden? Ja, antwortet Heidegger, im Prinzip ja, aber: »Herr werden wir der Stimmung nie stimmungsfrei, sondern je aus einer Gegenstimmung

An der Bedeutung des Gestimmtseins für das menschliche Leben kann kein Zweifel bestehen. Wie es mir jeweils zumute ist, kann dann von unabsehbarer Bedeutung sein. Tief reicht es in das menschliche Leben hinein. Affektive Stimmungen können mich geradezu überfallen. Manchmal komme ich nicht heraus. Ich bin womöglich längere Zeit tief verstimmt. Etwas fällt mir aufs Gemüt. Zugänge zur Welt, Erfahrungen, können sich mir demgemäß eröffnen oder verschließen, dieses Handeln ermöglichen und befördern, jenes erschweren oder gar unmöglich machen. Das Gestimmtsein ist eine Art Vorentwurf: Ich entwerfe in der Weise des Gestimmtseins die Welt so oder so. Die Stimmung stellt ein Vorab der Erfahrung dar, ein Vorab des Tuns, eine Initiation, Seinsgefühl und Seinswahrnehmung, verfügend geradezu über weltaufschließende Kraft.

Ich erwähne nur noch, daß Heidegger dann von großen, epochalen Situationen gesprochen hat, die eine Stimmungseinheit bilden, einen gewaltigen spezifischen Stimmungsraum, wie gesättigt von einer besonderen Befindlichkeit. Nicht leicht dann, wie gesagt, deren Charakteristikum zu beschreiben: deren vieldimensionalen Kommunikationszusammenhang als Geschrei mit scharfen Einflüsterungen und Wehelauten, deren Jammer und Seufzen, deren Jubel- und Triumphgeschrei und, besonders in der Neuzeit, deren Getöse tödlicher Kommandos.

1. Beunruhigung

Wie sind wir gegenwärtig gestimmt, wie unsere Kirche? Die Ehrenamtlichen, die Mitarbeiter, die Pfarrer und Pastorinnen, die Frauen und Männer in Leitungsämtern? Schwer zu sagen natürlich und von Person zu Person sehr verschieden, auch zum Beispiel unmittelbar vor Weihnachten sicher anders als am 13. Sonntag nach Trinitatis. Aber – gibt es eine Grundstimmung?

Mögen unsere Antworten darauf sehr verschieden ausfallen. Ich versuche eine vorsichtige Antwort. Vieles liegt auf der Hand und ist vielfach gesagt worden. Vielleicht hat eine bedrückte Stimmung Einzug gehalten, geht eine Grundstimmung um, die auf Überforderung beruht? Ist die Kirche ein kleiner Holzkreisel, wie es sie in meiner Kindheit gab, ein Kreisel, der zur Aufrechterhaltung seiner Drehung ständiger Peitschenhiebe bedarf – also ständig neu aufgelegter Handlungsanweisungen, zu verwirklichender, umzusetzender Leitbilder, Aktionsprogramme, Überprüfungsprozeduren, Zielorientierungen? Der Holzkreisel und die Peitschenhiebe? Wie stark ist deren ermutigende Kraft? Trösten sie und trotzen sie? Beunruhigen sie produktiv? Unterstellt wird ja häufig, wir seien allzu beruhigt und bedürften neuer energischer Handlungsimpulse. Trifft das eigentlich zu? Bin ich wirklich allzu beruhigt? Muß ich wirklich stärker und nachhaltiger gefordert werden als bisher? Muß ich geradezu angetrieben werden wie früher ein alter Gaul? Bedarf ich ständiger Peitschenhiebe durch Vorgaben dieser Art (am besten dann: ich internalisiere solche Vorgaben und füge mir die antreibenden Hiebe selber zu)?

In Klammern ergänze ich, daß die Situation, soweit ich sehe, im universitären Bereich gar nicht anders ist. Dieselbe Unterstellung der Selbstzufriedenheit und Faulheit der Professoren und Professorinnen, dasselbe notwendig erscheinende Angetriebenwerden.

Zurück zu unserer Kirche. Könnte es sein, daß immer wieder überwältigend guter Wille begegnet, wir uns aber – sogar ein bißchen traurig manchmal – zu verlieren drohen in allem Möglichen, welches irgendwie nicht als das Entscheidende empfunden wird. Irgendwie sehen wir uns gezwungen, nolens volens zu erledigen, was uns eben nicht als die Mitte, als das Eigentliche, als der gemeinte Auftrag erscheint. Spüren wir so etwas wie den drohenden »Verlust der Mitte«? Trifft es zu, daß es die nicht nur zeitweise auftretende, sondern die permanente Überlastung gibt, nicht bei allen und nicht durchgängig, Gott sei Dank (aber vielleicht doch dominant, mindestens immer wieder hervorbrechend?), die zusammengebissenen Zähne, die Schlaflosigkeit, der Zettel auf dem Nachttisch (was mir nachts eingefallen ist und was nicht vergessen werden darf), der drohende oder eingetretene burn-out, die Mehrforderung, das Anwachsen neuer Anforderungen ohne Reduktion der bisherigen. Man muß das alles gewiß nicht vertiefen. Es ist häufig genug benannt worden. Beunruhigung und Überforderung.

Wenn sich all das aber nicht nur de facto so verhält, sondern geradezu sein soll, alternativlos so sein muß? Ich komme noch einmal kurz auf einen Philosophen zurück. Jürgen Habermas erklärt: »Religiöse Überlieferungen leisten die Artikulation eines Bewußtseins von dem, was fehlt. Sie halten die Sensibilität für Versagtes wach.« Geradezu programmatisch soll »Religion« hier grundsätzlich vom Defizit her verstanden werden. Der christliche Glaube jedenfalls wird damit allerdings ganz und gar verfehlt. Es geht in ihm nicht um die Sensibilität für Versagtes, für die Aufrechterhaltung und die Beförderung des Bewußtseins dessen, was grundsätzlich fehlt. Es geht um das, was Evangelium genannt werden darf.

Ich fürchte, bei Habermas soll Religion und Glaube noch einmal zur Aufrechterhaltung der neuzeitlichen Grundfrustration funktionalisiert werden. Es ist die Macher-Ideologie, die den Religionsfunktionären aufgedrückt wird und die etwa sagt: »So schrecklich viel fehlt. Und es wird nicht einmal gemerkt, daß vieles nicht da ist, was aber da sein könnte und sollte. Niemand ist darüber hinreichend beunruhigt. Wie kann ich die Defizite sichtbar machen? Und was müssen wir also alles noch machen, um sie zu beseitigen?« Es spricht aus alledem eine Mangel-Ontologie, der gemäß das Vorhandene immer lediglich als Ausgangsniveau für Mehrforderungen auftritt. Nicht nur hätten in dieser Logik die Pfarrer und Pastorinnen sorgfältig das Bewußtsein dessen wachzuhalten, was in ihrer eigenen Tätigkeit fehlt, und zu fragen wären sie, ob sie wirklich hinreichend beunruhigt und aufgeschreckt sind, ob sie hinreichende Sensibilität für das Versagte ausgebildet haben. Vielmehr wäre genau das dann auch ihr Auftrag: niemals den Blick von den Defiziten abzuwenden und ihrerseits die Gemeinden dazu anzuleiten. Was fehlt noch alles? hieße die Programmatik: Was fehlt uns noch alles, und wie halten wir die Sensibilität für Defizite wach? Vor dieser Programmatik bewahre uns, lieber Herre Gott!

2. Gründung

Was ist das Gegenteil von »Überforderung«? Nein, nicht die Unterforderung. Nicht das, was Ernst Bloch das »Faulbett« nannte. Sondern dann tritt das Gegenteil von Überforderung ein, wenn etwas gut ist und genügt. Auf das, was fehlt, kann man sich nicht gründen, sondern es nur zu erreichen suchen, ihm nur, angetrieben vielleicht, hinterherlaufen. Wie können wir uns aber auf das gründen, was gut ist und genügt?

Ich nenne zunächst ein etwas beliebiges Beispiel. Schon in der Confessio Augustana – allerdings in einem wichtigen Zusammenhang – wird einer Überforderung entgegengetreten. Es geht um die Einheit der Kirche. Ein »satis« wird ausgesprochen. Unverkennbar findet eine Konzentrationsbewegung statt. Sie ist zugleich eine Entlastung. Zur wahren Einheit der Kirche genügt es, satis est, »daß das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden. Denn dies ist genug zur wahren Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.« (CA 7) Mehr braucht es nicht. Die Konfessionen müssen sich nicht überfordern. Und nach Möglichkeit die Pfarrer dann auch nicht: Satis est, »daß das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden.« Nicht auszudenken, wenn das einmal Geltung hätte!

Aber noch viel wichtiger: die biblischen Texte. Ich nenne zunächst nur zwei. Eines der eindrücklichsten Beispiele findet sich am Ende des Johannesevangeliums. Jedes Kind kann diesem Text gemäß das Evangelium verstehen. Da wird Petrus nur das Eine gefragt: »Hast du mich lieb?« (Joh. 21,15ff). Das genügt. Und Paulus berichtet, daß der Herr zu ihm gesagt hat: »Meine Gnade genügt dir. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« (2. Kor. 12,9)

»Meine Gnade genügt« – ich glaube, das ist eine der überhaupt schärfsten Zumutungen, die das NT bereithält, für die Gegenwart ein ungeheuer provozierender, unannehmbarer Text, eine glatte Herausforderung. »Meine Gnade genügt.« Als modernen Menschen, die wir natürlich alle irgendwie auch sind, fallen uns sofort hundert Einwände ein. Sofort wird der Text relativiert. Was aber wäre eine Gestimmtheit, die genau dies wahrhaben wollte, dies absolut Unfaßbare: »Meine Gnade genügt«?

Wenn es aber tatsächlich so wäre, daß uns viele, allzu viele Einwände einfielen, dann ginge es wohl um gründliche Umstimmung. Die aber kommt nur auf in einer Gegenstimmung – in einer Gegenstimmung, die die Stärke eines machtvollen Widerrufs besitzt, also im gezielten Konflikt, geradezu in einem »Kampf der Umstimmung« (Heidegger). Das hieße dann: positive tröstliche Umstimmung und positive trotzige Gegenstimmung. Trost und Trotz.

Umstimmung – das heißt ntl. mit Röm. 12,2: »Verändert euch! ?????????Ü???« »Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes.« Auf Erneuerung des Sinnes, des ???? kommt es an. Eine Umkehr der Grundeinstellung, der Grundbefindlichkeit soll eintreten, ????????, Umkehr, eben Umstimmung. Ich wiederhole es: Gestimmtsein ist früher als Denken, ist früher als Handeln. Die ???????? betrifft eine Veränderung, die jedem Denken und Handeln vorausgeht. Nicht wird zuerst gesagt: »Handelt von jetzt an anders!«, auch nicht zuerst: »Denkt um!«, sondern wichtiger, befreiender, schöner: »Ihr könnt umgestimmt werden!« Und dann folgen Umdenken und Neuorientierung des Handelns – aber in anderer Grundierung, in Trost und Trotz.

3. Umkehr

Wir denken normalerweise bei dem Wort »Umkehr« an einen einfachen Wechsel der Wegrichtung (also statt vorwärts zurück). Ich möchte versuchen, es präziser zu fassen, in etwas anderer Bildlichkeit, nämlich als Umkehr zur Mitte hin, als Zentrierung (nicht zentrifugal, sondern zentripetal) – gegen das Ausbrechen ins eigentlich Entbehrliche, ins Diffuse und Beliebige, also gegen den drohenden »Verlust der Mitte«. Es ist die Umkehr genau zu dem hin, was gut ist und genügt. Statt daß das »Genug« immer unerreichbar hinter dem Horizont bleibt, kann sichtbar gemacht werden, daß es schon vorliegt, daß man sich darauf beziehen, daß man gegenwärtig davon leben und dabei bleiben kann.

Worauf sind wir gegründet? Es kann, glaube ich, gegenwärtig gar nicht zentral und mittig und grundlegend genug geredet werden. Unumgänglich ist es, sich auf die Grundlagen des christlichen Glaubens neu zu besinnen. Selbstverständlich sind sie ja nie.

In einem großartigen frühen Aufsatz hat Eberhard Jüngel nach der »Grundlegung evangelischer Ethik« gefragt und dabei auf die unbedingte Vorgängigkeit eines schon Geschehenen verwiesen, zusammengefaßt in der Frage »Was ist getan?«. Vor der Antwort auf die Frage »Was ist zu tun?« liegt die Antwort auf diese andere Frage »Was ist getan?«.

Was ist getan? Jesus Christus ist auferstanden von den Toten (1. Kor. 15,20). Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich (2. Kor. 5). Wir haben Frieden. Verlorengegangen ist das schöne Wort »Seelenfrieden« (es wird von uns modernen Menschen sofort niedergemacht). Das NT spricht aber emphatisch davon: Wir haben Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus (Röm. 5,1). So kurz ist sein Arm nicht, daß er nicht mehr erlösen kann (Jes. 50,2).

Was ist getan? Eine große Situationsveränderung ist eingetreten: Jeder Mensch als solcher ist ein Mitmensch Jesu Christi geworden, sein Nächster. Ich habe für immer einen Nächsten, den liebevollen Jesus von Nazareth, den wahren Gott und den wahren Menschen. Ein grundlegendes »Ja« ist getan. Schon am Anfang war das Ja (Joh. 1,1). In Jesus Christus war nicht Ja und Nein, sondern Ja war in ihm (2. Kor. 1,19). Das ist getan.

Was folgt daraus? Es ist genug getan. »Satis« heißt das entsprechende lateinische Wort. Satisfactio, die Genugtuung: man muß sie nicht im Sinne des Anselm von Canterbury verstehen, aber an der Richtigkeit des in diesem Wort Gesagten kann kein Zweifel sein. Gott hat gehandelt, Gott hat gesprochen, Deus dixit (wie Karl Barth einzuschärfen wußte). Ein wunderbares Perfekt, philosophisch gesagt: ein unhintergehbares Apriori, ein überschwengliches göttliches Vorab, das sich zugetragen hat, Richtungsvorgabe der Welt, ein Vorurteil im guten Sinne, eine Voreingenommenheit, ein Vorentwurf Gottes, der allem, wirklich allem liebevoll zuvorkommt, eine von ihm gesetzte unverrückbare und unumstößliche Voraussetzung, seine Setzung, Voraussetzung für alles Weitere, sogar für die Ewigkeit. Was ist getan? Es ist genug getan. Wir brauchen uns davon nicht abbringen zu lassen.

»Laß dir an meiner Gnade genügen!«, sagt der erhöhte Herr dem Apostel zu. Ich habe es erwähnt. Und in Joh. 10,10 verheißt Jesus: »Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen«. Entsprechend in 2. Kor. 9,8: »Gott kann machen, daß alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allewege volle Genüge habt!« Kol. 2,9 spricht von guter, zureichender, ja überschießender Fülle, der Fülle der Gottheit, wie sie leibhaftig in Christus wohnt (Kol. 2,9) – »keiner Überbietung fähig und keiner Ergänzung bedürftig«, erklärt Karl Barth, das Verschwenderische und Überschießende, nicht ärmlich und jämmerlich, aber auch niemals ins Allzusehr übergehend, die ganze ungeteilte Wahrheit. Nur in ihm, seinem ganzen Erscheinen, begegnet und gibt sich zu verstehen: das ??É?????, die Fülle der Gnade (Joh. 1,16) – so daß unverrückbar gilt: »In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis« (Kol. 2,3). In ihm findet sich der »Schatz im Acker«, in ihm »die köstliche Perle« (Mt. 13,44-46), in ihm, dem unausforschlich ewigreichen Christus (Eph. 3,8). Was ist getan? Es ist genug getan. Satisfactio.

Und darum gilt: Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus (1. Kor. 3,11). Auf ein einfaches Insistieren auf dem Grundlegenden kommt es dann an. Die Kirche Jesu Christi kann darauf bestehen und dabei bleiben. Das ist viel. Denn der Glaube ist Grundvertrauen. Und Umkehr zur Mitte hin, das heißt dann: Umkehr zu ihm hin, zur satisfactio, die er selber ist, zu dem, was getan ist. Perfekt. Punkt. Basta. Vor ein paar Tagen erst habe ich es entdeckt: Wie heißt das deutsche Wort »genug« auf Spanisch? Antwort: Basta. Die satisfactio ist ein wunderbares »Basta«. »Solo dios basta – Gott allein genügt«, sagt Teresa von Avila, die Mystikerin des 16. Jh. Und Jochen Klepper: »Hab nur in ihm Genüge, in seinem Wort mein Glück« (EG 452,3).

In bezug auf die zentralen Aussagen des NT ist genau dieses herrliche, insistierende, manchmal geradezu jubelnde »Basta« angebracht: »Er ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Basta!« »Ich lebe – und ihr sollt auch leben! Basta!« Ein freundliches, liebevolles, wunderbares »Basta« ist das, nicht imperativisch hart, aber von unbändiger, schöner Mächtigkeit. Etwas Unerschütterliches, Definitives wird gesagt. Gott sei Dank! Lob sei dir, o Christe! Das ist das Genügen des Glaubens. Es gibt Gewißheit auf der Welt. Es ist die Gewißheit des Basta. Man kann einfach dabei bleiben. Luther nannte das Heilsgewißheit.

Und was ist dann die Antwort auf Gottes »Basta«? Schlicht könnte sie lauten: »Deine Gnade genügt mir.« Welche Zumutung darin liegt, habe ich erwähnt. Aber diese Antwort ist machtvoll. Sie ist die Umkehr zur Mitte hin.

In seiner christologischen Psalmenauslegung Gebetbuch der Bibel wird von Bonhoeffer auf Lk. 22,35 verwiesen: »Habt ihr auch je Mangel gehabt?«, werden die Jünger gefragt. »Niemals!« Überaus eindrucksvoll auch Bonhoeffers Gideon-Predigt (1933) mit den Sätzen: »[…] hast du nicht begriffen, was es heißt, daß es Gott ist, der dir ruft; ist dir sein Ruf allein nicht genug […]? Gott hat gerufen, das ist genug.« Zweimal wird dann 2. Kor. 12,9 zitiert (»Laß dir an meiner Gnade genügen!«). Noch einmal: eine Zumutung, dieser Satz? Jedenfalls auch in dem Sinne, daß Mut zugesprochen wird. Unfaßbare Zumutung und unfaßbarer Zuspruch! Der Mensch, führt Barth aus, »braucht sich nicht mehr den Kopf zu verdrehen, um nach dieser oder jener oder gar nach allen Seiten zu lauschen und zu spähen«, zu lauschen und zu spähen nach dem immer wieder noch Besseren und Optimalen und »Optimalsten«.

Es gibt auf der Welt ein unbedingtes Gutes, vor dem das ganze verkehrte Wesen der Zeit davonfliegt. Das Große Ungenügen aber – seit Jahrhunderten besonders kultiviert, ausgebaut und zum Großprinzip aufgeworden – das Große Ungenügen kann zergehen wie ein fliehender Schatten.

Das Genügen des Glaubens. Es gibt aber auch das Genügen der Theologie (die sich nämlich überflüssige Fragen sparen kann). Daß es so ist, wie es ist, daß das Wort Fleisch wurde und unter uns wohnte, daß der Satan vom Himmel fiel wie ein Blitz, braucht nicht mehr hinterfragt zu werden. Der Glaube weiß es. Diese Voraussetzung steht nicht mehr in Frage. Nur noch kann gefragt werden, inwiefern es so ist. »Der nach christlicher Erkenntnis Fragende«, so Barth, »fragt auf Grund der keinen Augenblick in Frage stehenden Voraussetzung, daß es so ist, wie er christlich glaubt, danach, inwiefern es so ist.« Eine Entlastung der Theologie von einer maßlosen Überforderung ergibt sich, weil die vollbrachte Versöhnung überhaupt nicht mehr zur Debatte steht. Ihrerseits ist sie Begründung, statt daß sie begründet werden müßte.

4. Umstimmung

Worauf sind wir gegründet? Seltsam zu sagen: auf etwas Unverfügbares, auf eine Stimme, die Stimme Christi. »Ich habe euch gezeugt in Christus Jesus«, schreibt Paulus an die Korinther (1. Kor. 4,15), »durch das Evangelium!« Die Gemeinde ist ein Geschöpf, eine creatura, das Geschöpf einer Stimme, eines Rufes, eines Hauches, die creatura evangelii.

Jesus Christus, das menschgewordene Evangelium, er stimmt, er bestimmt, er stattet mit neuer Grundstimmung aus, mit Grundvertrauen. Die Grundstimmung läßt immer noch sehr verschiedene Gestimmtheiten im einzelnen zu. Das NT selber ist das beste Beispiel dafür. Schon die Evangelien sind, wie mir scheint, sehr verschieden gestimmt – eine Verschiedenheit, die sich auch dem Leser oder Ausleger (und dann wohl auch der entsprechenden Predigt) mitteilt. Eindeutig sind zum Beispiel die Paulusbriefe von unterschiedlichen Stimmungen geprägt, schon wegen der verschiedenen Gemeindesituationen, in die hinein Paulus spricht. Denken wir an den zornigen Gal. oder an die Stimmungsumschwünge im 2. Kor. Und doch hält sich eine Grundstimmung durch. Ein perfektes, vollkommenes Basta klingt durch. »Meine Schafe hören meine Stimme!« Das ist das ganze Evangelium.

Mit Christus öffnet sich das Tor zu tatsächlichem vollen Genügen, zum Abtun des permanenten Mangelgefühls, doch auch zur Aufhebung der fürchterlichen Faszination hektischer Optimierung, zum Erweis der Absurdität der Gier (der Lebensgier, der unerfüllbaren Selbstgier). Nichts ist dann hinzuzusetzen, nichts fehlt mehr. Eine Gestimmtheit kann eintreten, die die Versöhnung mit Gott ernsthaft wahrhaben will. Ein Segen: das Basta-Evangelium des NT, das Amen-Evangelium! »Amen« und »Basta« – das ist dasselbe.

»Amen«, ein endgültiges, ein emotionales Wort, ein Wort letzter Entschiedenheit – normalerweise hören wir es abschließend, als ein letztes Wort. Jesus aber redet immer einmal wieder überraschend anders. Nicht selten beginnt er eine Rede mit einem »Amen«: »Amen, ich sage euch …« Luther übersetzt mit »Wahrlich«. »Wahrlich, ich sage euch …«; häufig sogar in doppelter Entschiedenheit, z.B. gleich in Joh. 1,51: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ihr werdet den Himmel offen sehen!« Das »Amen«, das »Wahrlich«, das schöne »Basta«, geht leuchtend voran. Jesus holt das endgültige Wort kraftvoll nach vorn. Er redet machtvoll. Das NT kennt auch sonst die »Vollmacht« seiner Worte. Seltsam, nicht wahr, eine Umkehrung von Anfang und Ende, die Jesus vornimmt. Dieses von Jesus stürmisch nach vorn geholte, strahlende »Amen« – es vollzieht die Klarheit des Herrn von Anfang an, die wunderbar allem vorausleuchtende Klarheit des Herrn (»Und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie«). Ehre sei Gott in der Höhe – das ist schon gesichert. Über Heil und Unheil, über Segen und Fluch, ist schon entschieden. Bevor auch nur ein einziges Wort ausgesprochen wird – ist schon alles klar. Ein unhintergehbares Apriori, ein göttliches Vorab. Von Anfang an – Amen – umgibt uns umfassende Geborgenheit. Ich kann mein ganzes Leben schon in sie einhüllen. Zuvorgekommen ist der Verwirrung meines Lebens das Entscheidende, Gottes Amen, sein Basta. Lob sei dir, o Christe.

5. Zusage

»Wir reden als Menschen«, schreibt Paulus an die Thessalonicher (1. Thess. 2,4), »Wir reden als Menschen, die Gott wert geachtet hat, sie mit dem Evangelium zu betrauen«. Gott hat uns ausgezeichnet, er hat uns gewürdigt und uns mit dem Evangelium betraut. Gute Botschaft ist uns anvertraut und aufgetragen.

Der Prediger, die Predigerin auf der Kanzel, betraut mit dem Evangelium, mutig genug zu hoffen, sehen machen zu können und umstimmen zu können, malt etwas vor die Augen: wie ins Dunkel gezeichnet vielleicht, mit der Kreide des Wortes in die Verdüsterungen einer Seele, aber auch in die Dankbarkeit eines lichterlohen Augenblicks, in dessen Erschrecken und dessen Wirrnis, in aufflammende Hoffnung und tiefe, düstere Unversöhntheit. Hell kann sich die Erscheinung des Lebendigen auftun (Gal. 3,1). Er wird »vor die Augen gemalt«. Das Sein Jesu Christi, Todeslauf und Lebenslauf der Liebe, ist das, was getan ist.

Die christliche Predigt, leider manchmal gering geachtet, ist einfache Zusage und Zurede dessen, was getan ist, und daraufhin Umstimmung in der Kraft der Stimme Christi. Zur Hauptsache sagt sie eben nicht, was noch fehlt, wo die Defizite liegen, was getan werden muß. Was geschieht in der Predigt? Die einfache Zusage des göttlich Definitiven, dessen, was gut ist und genügt, Zurede an konkrete Menschen in Städten und Dörfern, auf großen Kirchentagen und in kleinen Andachten. Jesus Christus sagt: »Ich lebe – und ihr sollt auch leben!« Ihr! »Dir sind deine Sünden vergeben!« Dir! Basta.

Ich nenne das die Basta-Predigt. Sie ist gekennzeichnet nicht durch den scharfkantigen Imperativ, sondern durch das Positive, durch Entschiedenheit und einfache, starke Wahrheit. Der Gottesdienst, die Stunde der Wahrheit, kommt ja nur dem nach, was vorangegangen ist. Vom vorausgehende »Amen« kommt ihm das Verbindliche. Das »Amen«, das »Wahrlich«, das »Basta«, die wunderbar allem vorangestellten Klarheit des Herrn – das ist der Anfang, der uns stärkt und beschützt und der uns hilft zu leben.

Wie könnte die Gottesdienstgemeinde dann gestimmt werden? Eine Befindlichkeit kann dann aufkommen, die auf dem Guten aufruht. Ängstliche, angefochtene, manchmal zutiefst beunruhigte Menschen werden ruhig in das »Amen« hineingesprochen. Dann hat das Gute wieder auf sich aufmerksam gemacht, dann ist dem Menschen für Zeit und Ewigkeit geholfen. Es ist, als ob das arg mitgenommene alte Ich dann eine Stimme eines Willkommens hörte: »Dahin war es mit dir gekommen. Weit fort bist du gewesen. Aber nun bist du da, im kleinen Wort ›Amen‹. Willkommen!« Ein Gefühl für die Kostbarkeit des Daseinsaugenblicks stellt sich ein. Vielleicht öffnet sich der Sonntag. Er geht mir auf als der Tag des Herrn. Vielleicht predige ich dann sogar auch ein bißchen mir selbst? Vielleicht kommt die Welt im ganzen seltsam anders auf mich zu. Vielleicht entwickelt die Umstimmung weltaufschließende Kraft – für den Christen, den »ausgeschlafenen Typ«.

Wie man dieses neue Gestimmtsein in kurzen Worten nennen kann, entnehme ich einem großartigen Brief Bonhoeffers an seinen Schwager Rüdiger Schleicher. Eindringlich stellt er ihm dar, was die Bibel bedeuten kann. Und dann sind es zwei Worte, auf die alles zuläuft. Eben eine Gestimmtheit wird genannt, die aus der Begegnung mit der Bibel erwachsen kann. Sogar bei einem Mann wie Bonhoeffer wird in dem Brief das unruhige Herz spürbar, aber dann heißt es: Wir können (in der Orientierung an der Bibel und ihrer Mitte) »froh und ruhig« werden. »Froh und ruhig« – eine Grundgestimmtheit.

Noch einmal zurück zum Anfang: Bedarf ich wie ein Kreisel beständiger Peitschenhiebe? Nein, unruhig ist mein Herz ohnehin allzusehr. Ein Segen, wenn ich froh und ruhig werden kann!

Und wenn ich einmal die Gestimmtheiten der Gottesdienstgemeinde plastisch sehen und spüren könnte? Vielleicht ist eben das mitgebrachte Weltgefühl, das Wirklichkeitsgefühl der Gemeinde ein ganz anderes (eben gar nicht froh und ruhig)? Ihr Selbstgefühl ist vielleicht ein Versäumnisgefühl? Wie viele Menschen sind tief verstimmt, manche ein Leben lang! Mag die mitgebrachte Gestimmtheit Einzelner die sein, vom Zufall verweht und zernichtet zu sein, krank im Gefühl, ein Nichts zu sein, in sich zusammensinkend, völlig unbedeutend, »der letzte Dreck«. Was wissen wir denn? Niemand schaut in des Anderen Herz.

Immer auch Gegenstimmung, ja, denn es gibt ja die anderen »Bastas«. Ich glaube, man kann das ganz gut an einem kleinen Beispiel vor Augen bekommen: wenn man daran denkt, daß die Verantwortlichen in der Kirche nicht selten etwas wollen müssen. Wir müssen den Gemeindeaufbau nach dem Typ Soundso nicht nur interessant finden, sondern auch wollen. Nur wollen? Nein, wirklich wollen. Aber es gibt natürlich Schlimmeres, Messerscharfes: die angeblichen Unaufhaltsamkeiten, die ideologische Propaganda, die Beschwörung der Morgenröten der Zukunft, die heute Opfer fordern, die militärischen Notwendigkeiten und Alternativlosigkeiten. Elias Canetti nennt einen »frommen Freund«: »Er glaubt, daß es Engel gibt, die einem im rechten Augenblick die Ohren zuhalten.« Auch darin kann Umstimmung bestehen, dieses und jenes »Basta« zu überhören, wegzuhören, die Ohren zuzuhalten. Mit Joh. 10 ist nach der Stimme des guten Hirten zu fragen, also danach, was unbedingt zu hören und worüber ebenso unbedingt hinwegzuhören ist. Der gute Hirte begegnet dem Schmerz, er gewinnt unsere Herzen, unser Gestimmtsein. Er verwandelt das Leben und seine Gestalten. Was sind die Gestalten der Welt, die Hauptsachen der Welt? Ein Mann, eine Frau, ein Kind, ein Tod. Verwandlung in bezug darauf: ein Mann, eine Frau, ein Kind, ein Tod.

Eben ein Segen wenn die christliche Gemeinde, die ????????, herausgerufen wird. Aufkommen läßt das Evangelium trotzige Gegenstimmung. Ein bißchen Trotz! Zum Kleinmut kein Anlaß. Wir wollen ja bei dem bleiben, was getan ist. Es gibt ein Evangelium Gottes, das Evangelium Jesu Christi. Nein, ich will mich des Evangeliums von Christus nicht schämen. Ich will es unbefangen aussprechen dürfen: »Auferstehung von den Toten« und sogar ein wenig die deutsche Sprache ausloten, was sie hergibt an Farben zur Bezeichnung des ewigen Lebens und der ewigen Herrlichkeit. Darf ich das als aufgeklärt-moderner Mensch alles nicht mehr sagen? Ach, dann möchte ich lieber kein moderner Mensch sein. So toll ist das nun auch wieder nicht. Das ist mir eigentlich auch ziemlich egal, ob ich als moderner Mensch gelten darf. Haben wir es denn wirklich »so herrlich weit gebracht« – so daß die aufgeklärt-modernen Einwände sich alle von selbst verstehen und sich ihrerseits nicht befragen lassen dürfen? Ist das nicht total überheblich? Merkwürdige Angst, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein.

Ich habe übrigens auch keine Lust mehr, mich immer bei irgendwelchen modernen Menschen dafür entschuldigen zu sollen, daß ich noch an Gott glaube. Er, der moderne Mensch, ist es ja gewohnt, daß man ihn hofiert, daß man ihm argumentativ und auf jede Weise entgegenkommt und sich vor ihm verbeugt. Nichts da, nicht auf der Kanzel! Und sonst auch nicht. Ich will auch gestehen, daß ich manchmal den modernen Menschen vom Neandertaler nicht so gut unterscheiden kann. Vielleicht ist das Wort »modern« ja überhaupt nur eine Müdigkeitserscheinung.

Nein, ich werde mich nicht einschüchtern lassen durch den verachtungsvollen Einwand, die christliche Hoffnung sei doch nur harmlos und naiv und unrealistisch und himmelblau. Im Gegenteil, sage ich, die christliche Hoffnung enthält ein vielleicht sehr ärgerliches erhebliches Konflikpotential. Warum? Ich hoffe ja ausschließlich auf den totenerweckenden Gott. Sein Reich komme! In seinem Reich wird der Tod nicht mehr sein. Und die Alternative? Worauf hoffe ich nicht? Nein, ich hoffe nicht auf die Wissenschaft, ich hoffe nicht auf die Entdeckung der entsprechenden Gene, des Alterungsgens und des Todesgens – so daß der Mensch dann unsterblich würde. Ich hoffe darauf nicht. Ich fürchte mich vor dieser Entwicklung.

Welch ein Segen wäre eine positive Umstimmung, eine trotzige Gegenstimmung, die die Stärke eines machtvollen Widerrufs besitzt!

6. Gottesdienst

Keine Therapie ist dann die Predigt in erster Linie (»Liebe Patienten!«), kein Austausch religiöser Gefühle (»Liebe Gesinnungsgenossen!«), keine Mitteilung von Informationen (»Liebe Benutzer von Wikipedia!«), kein Lernprozeß (»Liebe Zöglinge!«), keine Handlungsanweisung zur Weltverbesserung (»Towarischtschi!«). Gestimmtsein ist, wie ausgeführt, früher als all das. Jeden Predigttext kann der Prediger befragen, inwiefern er ????????, also Umstimmung hin zur Mitte des christlichen Glaubens bringt, hin zum »satis«, hin zum Guten, zu Trost und Trotz.

Zum Schluß noch einmal zwei theologische Stimmen: Eberhard Jüngel und Karl Barth.

Jüngel: »Wir müssen aufhören, uns des Reichtums zu schämen, der uns in Gestalt des Gottesdienstes anvertraut ist. Der Gottesdienstbesuch mag noch so gering sein. Wir sollten davon ausgehen, daß schon das Angebot eines Gottesdienstes ein in unserer Welt sich ganz und gar nicht von selbst verstehender Reichtum ist. Von diesem Reichtum und nicht von unserem selbstverschuldeten Defizit her sollten und dürfen wir uns verstehen. Und wenn wir es tun, wird dies unbestreitbar: entscheidendes Ereignis kirchlicher Praxis ist und bleibt der christliche Gottesdienst. Von ihm her gewinnen alle anderen Aktionen und Passionen des christlichen Lebens ihre Funktion und Bedeutung, in denen dann wir Gott und Menschen zu dienen haben.«

Und Barth: »Ja, deine Gnade genügt mir!« wird der Glaubende dem lebendigen Christus in Ehrfurcht entgegnen. »Liebe Brüder«, bittet der Prediger Karl Barth in einer seiner Gefängnispredigten zur Jahreswende 1962/
1963, »sagt ihm das als Letztes im alten und dann wieder als Erstes im neuen Jahr! Sagt es ihm leise, schüchtern, bescheiden. Wer dürfte es ihm schon anders sagen?« »Ja, deine Gnade genügt mir

In einer späten Predigt hat Barth seine eigene theologische Arbeit insgesamt zu diesem Genügen in Beziehung gesetzt. Die Sätze wollen als eine Lebenssumme seiner theologischen Existenz gelesen sein: »Einige von euch haben vielleicht etwas davon läuten hören, daß ich in den letzten vierzig Jahren sehr viele und teilweise sehr dicke Bücher geschrieben habe. Ich darf aber frank und frei und auch fröhlich zugeben, daß die vier Wörtlein ›Meine Gnade genügt dir‹ viel mehr und sehr viel Besseres sagen als der ganze Papierhaufen, mit dem ich mich da umgeben habe. Sie genügen – was ich von meinen Büchern von ferne nicht sagen könnte. Was an meinen Büchern Gutes sein möchte, könnte höchstens darin bestehen, daß sie von ferne auf das hinweisen, was diese vier Wörtlein sagen.«

Gott hat uns gewürdigt, uns mit dem Evangelium zu betrauen. So können wir von ferne auf das hinweisen und getröstet und trotzig, froh und ruhig, immer wieder dies zusagen: Die Gnade Christi genügt.

Anmerkung:
Vortrag beim Pfarrertag des Thüringer Pfarrvereins am 24.5.2012 in Neudietendorf. Der Beitrag wurde auf Wunsch des Autors in der alten Rechtschreibung belassen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 9/2012