Derzeit sprudeln die Kirchensteuereinnahmen in den Landeskirchen noch. Aber es ist absehbar, dass sich das ändern wird. Ein beliebtes Mittel, um Kosten zu sparen, ist die Zusammenlegung von Gemeinden. Ein falscher Weg, warnt Dr. Christian Schwark, Pfarrer einer der bestbesuchten Kirchengemeinden in Südwestfalen, in Trupbach-Seelbach in Siegen…
In den evangelischen Landeskirchen breitet sich zurzeit die „Fusionitis“ aus. Was ist das? Man erwartet in der Zukunft – ab 2017 – stark zurückgehende Kirchensteuern. Einige Experten prognostizieren sogar bis 2030 einen Rückgang der Finanzkraft der Landeskirchen um bis zu 50?%. Und schon heute können viele Gemeinden ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen. Das Rezept: Man legt Gemeinden zusammen. Mit mehr oder weniger sanften Druck werden sie dazu aufgefordert, sich zu vereinigen, miteinander zu fusionieren. Hauptsächlich, um Stellen einzusparen. Oft entstehen dabei Großgemeinden mit mehreren Pfarrstellen. Warum ist diese „Fusionitis“ ein Problem? Einige Gründe:
1. Das Profil geht verloren
In einer kleineren Gemeinde ist es viel leichter, ein Profil zu gewinnen und zu erhalten. Ein Profil kann z.?B. eine missionarische Ausrichtung sein: dass es der Gemeinde in allen Bereichen darum geht, Menschen für Jesus zu gewinnen. Viele profilierte Kirchengemeinden haben eine Einzelpfarrstelle. In einer fusionierten Gemeinde mit mehreren Pfarrstellen ist man darauf angewiesen, einen Minimalkonsens zu finden. Das verhindert eine Profilbildung. Manchmal wird gesagt, man könne ja sein Profil in dem einzelnen Bezirk behalten. Aber was passiert, wenn die Pfarrstelle neu besetzt wird? Dann wählt die Leitung der gesamten Gemeinde, nicht nur die des Bezirks. Und dann ist es oft vorbei mit dem Profil. Oder es gibt zeitraubende und lähmende Auseinandersetzungen über das künftige Profil der Gemeinde bzw. der Bezirke.
2. Die Ehrenamtlichen bleiben auf der Strecke
In einer kleineren Gemeinde können Ehrenamtliche den Überblick behalten. Und dann auch Verantwortung übernehmen. So gibt es in unserer Gemeinde seit Jahren einen ehrenamtlichen Vorsitzenden in der Gemeindeleitung. In einer fusionierten Großgemeinde kann ein Ehrenamtlicher nicht mehr die ganze Gemeinde im Blick haben. Außerdem treffen sich dann die Hauptamtlichen meistens vormittags zu Dienstgesprächen. Da werden die entscheidenden Dinge besprochen. Die Ehrenamtlichen sind nicht dabei. So führt die Bildung einer Großgemeinde dazu, dass Ehrenamtliche zunehmend von Hauptamtlichen dominiert werden. Kein gutes Signal in einer Zeit, in der wir auf das Lutherjahr zugehen. Und daran denken, dass Luther das „allgemeine Priestertum aller Glaubenden“ neu entdeckt hat.
3. In kleinen Gemeinden engagieren sich mehr
In einer kleineren Gemeinde engagieren sich viele lieber, weil sie wissen: Was ich tue, oder was ich spende, kommt direkt der Gemeinde vor Ort zugute. In fusionierten Gemeinden ist es viel schwieriger, dies zu gewährleisten. Außerdem geht viel Zeit und Kraft durch notwendige Absprachen verloren. Je größer und unübersichtlicher eine Gemeinde ist, desto mehr Sitzungen finden statt. Das kostet viel Kraft, die eigentlich dafür gebraucht würde, Außenstehende anzusprechen. Stattdessen entsteht eine neue Binnenorientierung. Das ist gerade heute fatal. Denn wir können Außenstehende nur gewinnen, wenn wir Zeit haben für persönliche Beziehungen. Hinzu kommt, dass die Auflösung einer Gemeinde von den Mitgliedern im Allgemeinen als „Rückbau“ der Kirche empfunden wird.
Insgesamt ergibt sich, dass die Fusion von Gemeinden ein ausgesprochen effektives Mittel ist, profilierten Gemeindeaufbau zu verhindern. Darum ist die „Fusionitis“ der falsche Weg, um die evangelische Kirche zukunftsfähig zu machen.
Welche Alternativen gibt es?
Und was ist die Alternative? Dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, liegt auf der Hand. Die Kirchensteuermittel werden zurückgehen. Da wäre es zu billig, einfach nur zu sagen: Wir sind dagegen. Aber es gibt viele andere Möglichkeiten, mit der neuen Situation umzugehen:
1. Hauptamtliche durch Spenden finanzieren
In manchen Gemeinden wird es bereits praktiziert, dass Hauptamtliche nicht mehr (nur) durch Kirchensteuern, sondern (auch) durch Spendenmittel bezahlt werden. Durch die Spendenfinanzierung wird zusätzlich die Identifikation zwischen dem hauptamtlichen Mitarbeiter und der Gemeinde gefördert.
2. Den Pfarrdienst mit anderen Stellen verbinden
Denkbar ist auch, Gemeindepfarrstellen mit anderen Stellen zu verbinden. Ein Pfarrer einer kleinen Gemeinde kann z.?B. zusätzlich Religionsunterricht erteilen oder sich in der Krankenhausseelsorge engagieren. Dass diese „funktionalen Dienste“ dann mehr mit der Gemeinde verbunden werden, ist ein zusätzlicher Vorteil. So kann z.?B. ein Pfarrer mit Kindern im Religionsunterricht etwas vorbereiten, was später im Gottesdienst aufgeführt wird.
3. Gemeinden teilen sich ihren Pfarrer
Schließlich gibt es die Möglichkeit, dass Gemeinden mit einem ähnlichen Profil sich einen Pfarrer teilen. Dann gibt es zwar eine Verbindung auf der Pfarrerebene, die Gemeinden und ihre Leitungsorgane bleiben aber selbstständig. In der (pietistischen) Gemeinschaftsbewegung und in manchen ländlichen Kirchengemeinden wird das schon seit Jahrzehnten praktiziert. Man argumentiert häufig, dass dadurch eine Mehrbelastung für den Pfarrer entsteht. Das mag sein. Aber auf der anderen Seite können so Ehrenamtliche leichter Verantwortung übernehmen. Dann ist es auch für den Pfarrer nicht zu viel. Er bräuchte bei vielen Sitzungen gar nicht dabei zu sein. So könnte das „allgemeine Priestertum“ 500 Jahre nach der Reformation Wirklichkeit werden.
Die Hälfte der Arbeitszeit geht für die Verwaltung drauf
Selbstverständlich lassen sich die verschiedenen Möglichkeiten auch miteinander kombinieren. So könnte eine Gemeinde sich z.?B. einen Pfarrer mit einer anderen Gemeinde teilen und zusätzlich einen weiteren Mitarbeiter aus Spendenmitteln einstellen. Dann kann der Pfarrer von Aufgaben entlastet werden, die ihm nicht liegen und für die er nicht ausgebildet wurde. Manche Pfarrer berichten, dass sie die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind. So etwas könnte dann vermieden werden.
Von Gemeindeegoismus kann keine Rede sein
Wenn man solche Überlegungen ins Gespräch bringt, kommt gelegentlich der Vorwurf: Ihr entzieht euch der Solidargemeinschaft. Ihr betreibt einen „Gemeindeegoismus“. Stimmt das? Zum einen stellt sich die Frage, was der Kirche in der Region und der evangelischen Kirche insgesamt mehr dient: eine Schwächung aller Gemeinden durch die „Fusionitis“? Oder Gemeinden, die selbstständig bleiben und mit ihrem unterschiedlichen Profil viele verschiedene Menschen ansprechen? Die Antwort liegt auf der Hand. So hat die EKD in ihrer Schrift „Kirche der Freiheit“ schon 2006 Profilgemeinden beschrieben, die „eine regional bezogene Ausstrahlung entwickeln“ und „eine regionale Gemeinschaftsaufgabe“ wahrnehmen (Seite 55). Dementsprechend gibt es positive Beispiele, wo ein Kirchenkreis solche Gemeinden bewusst fördert, z.?B. indem er ihnen ermöglicht, selbstständig zu bleiben. Eine profilierte Kirchengemeinde dient der Gesamtheit auf diese Weise mehr, als wenn sie in einer fusionierten Gemeinde aufgeht. Von einem „Gemeindeegoismus“ kann daher keine Rede sein.
Zusammenarbeit geht auch ohne Fusion
Auch ohne eine Fusion von Gemeinden kann es eine gute Zusammenarbeit in einer Region geben. Mit den Gemeinden in unserer Region sind wir in einem guten Austausch. Wir arbeiten mit anderen z.?B. in der Konfirmanden- und in der Freizeitarbeit zusammen. Auch auf der Verwaltungsebene kann es Entlastungen für eine einzelne Gemeinde geben. Viele Aufgaben können von regionalen Gemeinde-, Rent- oder Kreiskirchenämtern übernommen werden. Ohne dass deswegen die Bildung einer gemeinsamen Gemeinde erforderlich ist. Und schließlich kann Kirche in der Region auch durch besondere Veranstaltungen (z.?B. Gottesdienste bei Stadtfesten o.?ä.) wahrgenommen werden. Auch hierfür ist eine Fusion von Gemeinden nicht notwendig.
Das Wichtigste: Jesus und sein Wort sind entscheidend
Strukturen sind nicht das Wichtigste beim Gemeindaufbau. Gemeindeaufbau steht und fällt damit, dass sich eine Gemeinde an Jesus Christus und an seinem Wort orientiert. Aber Strukturen können Gemeindeaufbau leichter oder schwerer machen. Anstelle der sich ausbreitenden „Fusionitis“ ist der evangelischen Kirche zu wünschen, dass sie in strukturellen Fragen flexibler und innovativer wird.
C.S. für Ev. Nachrichtenagentur idea, 03. Dezember 2015