Die Kunst der Predigt: „Erst lasse ich mich segnen, dann segne ich die anderen“

Professor Stefan Claaß ist Dozent am Theologischen Seminar Herborn und leidenschaftlicher Prediger. Im Gespräch erklärt er, was eine gute Predigt ausmacht und warum die Zuhörer ein „Recht auf das Evangelium“ haben…

Was macht eine gute Predigt aus?

Claaß: Es geht ums Übersetzen von biblischen Zusammenhängen in unsere Lebenswelt. Es gelingt, wo Zuhörer merken: Das Gehörte hat Relevanz für mich. Manchmal bedeutet das auch: Ich gehe aus der Kirche und ärgere mich. Der Predigende begibt sich also in den Ring, ringt, und lässt eine Offenheit, die dem Zuhörer nicht Lösungen bieten soll, sondern hilft, Spannungen auszuhalten.

Ist das machbar?

Handwerklich und künstlerisch: Ja. Geistlich: Nein. Das Spannende liegt zwischen dem eigenen Tun und dem in den Dienst genommen sein: Ich als Prediger engagiere mich, so gut ich kann. Aber ich werde auch engagiert von jemand anderem, der meine Worte nutzt. So passieren Dinge, die ich nicht in der Hand habe. Zum Beispiel, wenn sich Leute nach dem Gottesdienst für etwas bedanken, das gar nicht gesagt wurde. Aber sie haben es gehört. Wir wissen nie, in welche Lebenssituation wir bei den Hörenden gerade hineinsprechen.

Steckt in der heutigen Gesellschaft die Predigt in der Kirche in der Krise?

Eine Predigt in der Krise sehe ich nicht. Aber sie verändert sich: Die Erwartungen und auch die Anforderungen, zeitgenössisch zu sein, sind höher. Die Bögen der Aufmerksamkeit in der heutigen Gesellschaft sind kürzer, kein Beitrag im Fernsehen ist so lange ohne Unterbrechung wie in der Kirche. Somit ist die Predigt an einem jeden Sonntag in der Krise – hier entscheidet sich: Wird sie relevant oder bedeutungslos, langweilig oder anregend?

Also haben PastorInnen und ehrenamtliche PredigerInnen, die Wortkünstler und Inszenierer sind, bessere Karten?

Es ist schön, wenn das jemand kann und es in Predigten zum Ausdruck kommt. Für mich lautet aber immer die Frage: Was ist angemessen, und was lenkt ab? Die Rolle des „Künstlers“ ist nicht für jede Predigt angemessen, zum Beispiel, wenn es um Leiden und Trauern geht. Der Sprachstil sollte auf die Gemeinde, das Thema und die Zeit angepasst werden.

Pastor Wolfgang Thielmann, der Redakteur des Magazins Christ & Welt, sagte: „Der Kirchenbesucher kann erwarten, dass er missioniert wird. Predigthörer haben ein Recht auf Mission. Sie haben ein Recht darauf, nicht nur zu erfahren, welche Entspannungsübungen ihnen nützen, welche politische Position der Prediger vertritt und welche Medikamente ihm geholfen haben, sondern auch, was ihn im Leben und Sterben festhält…“. Stimmen Sie dem zu?

Ich hätte den Satz so formuliert: Sie haben ein Recht auf das Evangelium. Was Thielmann hier kritisiert, ist, wenn die Predigt in der Horizontalen bleibt. Sie also nur fragt: Wie fühle ich mich? Was tat mir gut tut und hat mir geholfen? Erst in Verbindung mit der Vertikalen wird eine Predigt daraus: Die Frage nach dem Gottesverhältnis. Hier geht es nicht nur darum, sich wohl zu fühlen, sondern auch herausgefordert zu werden und sich auseinanderzusetzen mit den Seiten an mir, die ich nicht gut finde.

Sind die Geschichten aus der Bibel noch Kernpunkt für die Predigt?

Interessant ist, wenn Prediger/Innen nach einigen Jahren wieder auf ihre Predigttexte stoßen und sagen: „Ich kann die Predigt von vor sechs Jahren nicht nochmal halten. Ich habe etwas anderes entdeckt.“ Die biblischen Texte mögen gleich sein, aber ich kann den Bibeltext neu ins Gespräch bringen: mit einem aktuellen Film, mit Literatur oder einer Situation in der Gemeinde. Auch für populäre Bibelstellen wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn gilt: Ich kann eine neue Perspektive wählen. Auch die Gesprächspartner wechseln. Das Bibelwissen ist heutzutage ein anderes; in der Kirche sitzt garantiert jemand, für den der Text neu ist.

Sie begleiten Vikarinnen und Vikare beim Predigenlernen, bei der Gottesdienstgestaltung. Sie bilden Prädikantinnen und Prädikanten aus. Was legen Sie Ihnen ans Herz?

Sich Zeit zu nehmen: Zum Hinhören und Hinschauen. Ein Gottesdienst entsteht über die Woche: Denn da begegne ich Gesprächsfetzen, Erlebnissen und Bildern, die thematisch für den Bibeltext am Sonntag hilfreich sein können. Die Grundfrage sollte immer lauten: Was ist für die Gemeinde hilfreich und angemessen? Außerdem sollten sich Prediger und Predigerinnen bewusst sein: Wir feiern jetzt Gottesdienst. Das heißt nicht, ich muss jeden Sonntag gute Laune haben. Aber nach Möglichkeit werde ich selbst getragen, bevor ich mich vor die Gemeinde stelle und etwas sage. Zum Beispiel: Erst lasse ich mich segnen, dann segne ich die anderen.

Die Fragen stellte Rüdiger Jope, Chefredakteur des Kirchenmagazins 3E. Das komplette Interview mit Professor Claaß können Sie in Ausgabe 1/2016 von 3E nachlesen.

jesus.de

Bild: Jürgen Treiber  / pixelio.de