evangelisch – die große Freiheit

Was heißt das eigentlich: evangelisch glauben? Von den Möglichkeiten und Wagnissen, aus der Fülle der Angebote selbst auswählen zu können: ein Aufruf, das Leben Gott anzuvertrauen…

Ich bin evangelisch. Und das gern und aus voller Überzeugung. Evangelisch sein heißt für mich: Ich glaube an Gott, den liebevollen, uns Menschen zugewandten Schöpfer.

Aber mein Glaube ist kein abgeschlossenes System. Gott und Mensch, Gut und Böse, Richtig und Falsch sind nicht eindeutig und ein für alle Mal festgelegt.

Vielmehr halte ich es mit Paulus. Der schreibt an die Gemeinde in Thessalonich: „Prüfet alles, und das Gute behaltet“(1. Thessalonicher 5,21). Das ist für mich ein durch und durch evangelischer Satz. Er beinhaltet die Freiheit, auf Unbekanntes zuzugehen, ohne gleich schon zu wissen: Das ist gut für meinen Glauben. Ich darf mir alles anschauen, alles denken und vieles ausprobieren, um dann zu entscheiden: Das passt – oder auch nicht.
Mit dieser Haltung kann ich mich zum Beispiel Fragen nach Sterbehilfe oder Abtreibung stellen und die verschiedenen Argumente abwägen. Oder ich kann auf Menschen zugehen, die anders glauben und anders leben als ich, und schauen, was wir voneinander lernen können.

Und auch mich selbst kann ich immer wieder fragen: Entspricht das, was ich glaube und tue, eigentlich wirklich Gottes Willen? Oder muss ich Meinungen und Glaubensüberzeugungen, die ich bisher vertreten habe, vielleicht loslassen – selbst dann, wenn noch keine hundertprozentige neue Überzeugung bereitsteht?

Natürlich birgt diese Freiheit ein gewisses Risiko. Woher weiß ich, dass ich richtig liege mit meiner Einschätzung? Immerhin habe ich nur meinen menschlichen Blick, und der ist begrenzt und kann auch in die Irre führen. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht – aber ich glaube, dass Gott mir Verstand gegeben hat, die Geister zu scheiden – und sein Wort, nach dem ich mich richten kann. Es geht bei der evangelischen Freiheit nicht um mein eigenes Gutdünken, sondern um ein Abwägen im Licht des Evangeliums.
Also frage ich – Gott, mich und andere: Was entspricht Gottes Liebe und Barmherzigkeit? Was hat Jesus vorgelebt und gelehrt? Wie hat er sich Menschen zugewandt, sie aufgerichtet, sie befreit, ihnen Wert zugemessen? Und wie kann ich das in meinem eigenen Leben verwirklichen und weitergeben? Wie bringe ich Gott in diese Welt?

Diese Art zu glauben ist ein Wagnis. Sie bietet keine einfachen Lösungen und überlässt die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen nicht anderen Menschen oder Institutionen. Aber sie ist in meinen Augen die dem Evangelium gemäße, die evangelische Art zu glauben. Ich vertraue darauf, dass Gott mit mir ist auf diesem Weg des Fragens und Suchens, und dass er mit unverbrüchlicher Gnade ebenso auf meine Ratlosigkeit und Irrungen schaut wie auf meine richtigen Entscheidungen.

Oder, um noch einmal mit Paulus zu sprechen: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Römer 8,38).

Aus der Printausgabe – UK 44 / 2016 – von Anke von Legat | 28. Oktober 2016

 

Bild: gep.evangelisch.de

 

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