Ein Mann wollte seinen Schatten loswerden, aber, wie er es auch versuchte, es gelang ihm nicht. Er wälzte sich auf dem Boden, stürzte sich ins Wasser, versuchte, über den Schatten hinweg zu springen. Alles war vergeblich. Ein weiser Mann, der von diesen hilflosen Versuchen hörte, meinte dazu: „Es wäre doch ganz einfach gewesen, den Schatten loszuwerden!“ – „Wieso einfach?“, fragten die Umstehenden neugierig, „Was hätte er denn machen sollen?“ Der weise Mann…
…gab zur Antwort: „Er hätte nur in den Schatten eines Baumes treten müssen.“
Warum wollte der Mann seinen Schatten los werden? Der Schatten ist die Schuld, die uns von Gott und seiner Barmherzigkeit trennt. Wir erfahren den lähmenden Abstand von Gott. Wir stehen im Schatten unserer eigenen Karfreitagserfahrungen, unserer eigenen Karfreitagsexistenz. Wir wissen, wie uns das zusetzen kann. Was sagt jener Weise? „Du brauchst nur in den Schatten eines Baumes zu treten.“
Wir brauchen nur in den Schatten des Baumes, des Kreuzes Jesu zu treten, dann werden wir die Schuld los. Unser Schatten ist in seinem Schatten aufgehoben. Im Schatten dieses Kreuzes werden wir nicht alleine stehen. Dort stoßen wir auf andere mit ihrer Karfreitagserfahrung, ihrer Schuld und ihrem Leiden. Dort stoßen wir auf die Soldaten, die um seinen Rock würfeln, dort stoßen wir auch auf die Frauen, den Jünger und Maria, Jesu Mutter. Wir stoßen auf Täter und Opfer von Unrecht im Großen und im Kleinen.
Miteinander erleben wir: Der für Gottes Barmherzigkeit sein Leben gab, befreit uns. Der Karfreitag bleibt kein Trauertag. Er schenkt uns Gewissheit über Gottes Liebe zu unserer leidenden Welt. Wir erfahren Gottes Barmherzigkeit mit denen, die um ihr Leben betrogen wurden.
Das Kreuz ist der Baum, dessen Schatten unsere Schatten birgt. In diesem Schatten wird es hell.
Prof. Dr. Wolfgang Huber, EKD-Ratsvorsitzender a.D.