»Alles nur geklaut« – Plagiate auf der Kanzel

Von Peter Schaal-Ahlers. Dass aus Büchern und Lexika ohne Quellenangabe abgeschrieben wird, dass Spickzettel benutzt werden, ist ein uraltes Phänomen. Die Zeiten mühevoller handschriftlicher Abschriften sind jedoch passé. Noch nie war Kopieren und Speichern so einfach wie im Zeitalter des Internets. Was das für die Predigtarbeit bedeutet, diskutiert Peter Schaal-Ahlers… …»So wenig ein Meister vom Himmel fällt, fallen Kunstwerke vom Himmel, und was ich von Inspiration halte, da kann ich nur mich selbst zitieren: „Mir fällt nichts ein; mir fällt was auf.“ Alfred Hrdlicka

Bei einem Seniorengeburtstag erzählt ein Herr Z., dass er vor wenigen Wochen die sehr gute Predigt eines Lektoren gehört habe. Wenige Wochen später habe der Gemeindepfarrer in derselben Kirche wortwörtlich dieselbe Predigt wie zuvor der Lektor gehalten. »Das ist doch nicht in Ordnung!«, kommentiert Herr Z. empört. Das Bild, das er bis dato von seinem Gemeindepfarrer hatte, hat Schaden genommen. An der Kaffeetafel beginnt ein munteres Gespräch über Plagiate auf der Kanzel.

In der wissenschaftlichen Theologie hingegen wird das Thema in jüngster Zeit nicht verhandelt. Dies verwundert, denn das Phänomen, dass Produkte, Texte, Design und Melodien ganz oder teilweise kopiert, übernommen und geklaut werden, ist heute weltweit verbreitet1. Schätzungen gehen davon aus, dass jedes zehnte weltweit verkaufte Produkt gefälscht ist. »Der wirtschaftliche Schaden, der durch Produktpiraterie europaweit jedes Jahr entsteht, wird auf 250 Milliarden Euro im Jahr geschätzt.«2

Im Bereich der Wissenschaft sind Plagiate mittlerweile ein großes Problem.3 »Copy and paste« wird an Universitäten genannt, wenn Hausarbeiten, Promotionen oder Forschungsarbeiten aus dem Internet heruntergeladen und ohne Kennzeichnung der Quelle als eigene Werke ausgegeben werden.

Und nicht einmal der Karneval ist noch eine Insel der Seligen. Bei der Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst 2006 war die Rede des frisch geschlagenen Ritters zu mehr als der Hälfte aus dem Internet gezogen.4

Homiletisches Selbstbedienungsrecht?

Darf ein Pfarrer eine Predigt, die er nicht selbst angefertigt hat, im Gottesdienst vortragen? Auf dem Portal »Göttinger Predigten im Internet«5, auf das monatlich immerhin

60?000mal zugegriffen wird, findet sich auf diese Frage folgende Antwort: »Ja. Die eingestellten Predigten sind zwar in erster Linie als Anregungen für das Erstellen einer eigenen Predigt gedacht, aber auch die vollständige Übernahme einer Predigt ist möglich. Sie müssen beim Halten der Predigt nicht auf die fremde Autorschaft hinweisen. Indem Sie die Predigt halten, wird sie zu der Ihren.«6

Wie ist dieser unkomplizierte, rechtlich unbedenkliche fröhliche Wechsel der Urheberschaft einer Predigt möglich? Gilt Jesu Anweisung an seine Jünger »Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch« (Mt. 10,8) auch für Predigten? »Eine Predigt ist nicht Eigentum des Predigers; Gott ist ihr Urheber«7 formulierte der Kirchenvater Irenäus von Lyon programmatisch. Der Geist weht in der im Leib Christi verbundenen Christenheit, wo er will.8 Dem unbegabten Prediger gibt Augustinus den Rat, mit gutem Gewissen, die Predigten anderer zu benutzen.9 Dieser Ratschlag wurde befolgt: In der Geschichte der Kirchen gibt es eine lange Tradition der Übernahme fremder Predigten. So stellte Alfred Niebergall fest: »Die Predigtgeschichte in Deutschland beginnt mit der Benutzung von Modellen. Mangelnde Originalität und die große Abhängigkeit von klassischen Vorbildern machten diese Predigten offenbar nicht unwirksam.«10 Martin Luthers Haus- bzw. Kirchenpostille von 1521 war ein groß angelegtes religionspädagogisches Programm, das Hausväter zur häuslichen Erbauung und Pfarrer zum Predigen im Gottesdienst befähigen sollte.11 Rudolf Bohren reklamierte gar ein homiletisches Selbstbedienungsrecht: »Da es in der Kirche Jesu Christi kein geistiges Eigentum gibt, habe ich die Freiheit, bei anderen zu nehmen, was mir passt.«12 Schließlich ist es das Wesen der Predigt, das in ihr fremde Worte nachgesprochen werden. Auf der Kanzel kommt das verbum externum, der fremde Bibeltext zur Sprache.

Ein Seitenblick in die Welt des Kunst- und Kulturbetriebs

»Die Benutzung fremder Predigten war früher selbstverständlich, und dass sie heute so verpönt ist, hat seinen Grund nicht nur in theologischen Überlegungen, sondern in der Verwechslung von geistlicher und künstlerischer Produktivität.«13 Dieser Satz war schon 1966 nicht haltbar. Auch im Bereich der Kunst und Kultur wird14 und wurde in großem Stile kopiert. Johann Wolfgang von Goethe sagte über sich: »Ich verdanke meine Werke … Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinn sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesät hatten.«15 Bertolt Brecht plädierte für eine souveräne Nachahmung fremder Stoffe: »Man muss sich frei machen von der landläufigen Verachtung des Kopierens. Es ist nicht das Leichtere. Es ist keine Schande, sondern eine Kunst.«16

Jüngst hat Jonathan Lethem unter der Überschrift: »Autoren aller Länder, plagiiert euch!«17 für die höhere Kunst des höheren Abschreibens plädiert. Nicht Einflussangst, Einfluss-Ekstase soll den Künstler antreiben. Er deckt die Heuchelei im Bereich des Urheberrechts auf: »Ungeniert zapft der Walt-Disney-Weltkonzern überall Quellen an – aber die eigenen Kreationen bewacht die Mickeymaus-Firma so scharf wie Fort Knox.« (63) Feinsinnig bemerkt Lethem: »Es gibt ein weites Feld von Werten, die der Begriff »Eigentum« nicht abdeckt. Und Kunstwerke existieren simultan in zwei Ökonomien: der Markt-Ökonomie und der Geschenk-Ökonomie.« (62) »Selbst wenn wir fürs Museum oder den Konzertsaal Einritt bezahlt haben, wird doch, wenn wir von Kunst berührt werden, etwas zuteil, das mit dem Eintrittspreis nichts zu tun hat.« (62) Lethems Essay endet mit den Sätzen: »Machen Sie bitte keine Raubdrucke von meinen Büchern (ich muss davon leben); aber plündern Sie ruhig meine Visionen. Der Name des Spiels lautet: Alles hergeben. Willkommen, Leser, bei meinen Geschichten. Sie haben mir nie gehört, aber ich habe sie Ihnen geschenkt. Wenn Sie Lust haben, sie anzunehmen, dann bedienen Sie sich. Meinen Segen haben Sie.« (63)

Dieser Geist der Kreativität und sinnlicher Adaption ist auch für die Kanzelrede wünschenswert. Immer jedoch wird dieser kreative Prozess mit Arbeit verbunden sein. Das schöpferische Arbeiten, wenn es Tiefe gewinnen soll, beinhaltet Lust und Schmerz. Das Übernehmen und Verwerfen fremder Gedanken erfordert ein denkendes und fühlendes Subjekt, das um die Wahrheit ringt.

Vom Gewinn der Benutzung fremder Predigten

An guten wie weniger guten Predigten lernt eine Predigerin oder ein Prediger das eigene Predigen. Predigten anderer Autoren können ermutigen, Ungewohntes zu wagen. Es ist hilfreich, gelungene Sentenzen zu studieren. Außergewöhnliches ermutigt, selbst Neues zu wagen, um schließlich eigene Wege zu gehen. Sich die Predigt eines Kollegen zu Eigen zu machen, seine Worte und Gedanken zu meditieren und nachzusprechen, kann Ausdruck von Freundschaft und geistlicher Verbundenheit in der nahen wie weltweiten Ökumene sein.

Dass das Internet auch die Erarbeitung von Predigten in der Arbeitsform der Collusion ermöglicht, ist eine große Chance. Teamarbeit erhöht die Aspektvielfalt und fördert mehr Ideen zu Tage als das einsame Brüten vor dem Bildschirm.18 Nicht zu vergessen ist auch die motivierende Wirkung fremder Predigten. »Am Morgen weckt ein Singvogel den anderen. So ist es, wenn man auf dem Weg zur Predigt die Predigt eines Kollegen liest.«19

Geht man von den Hörerinnen und Hörern einer Predigt aus, so ist es zweifelsohne in deren Interesse, dass die Qualität eines Gottesdienstes stimmt. Im EKD-Impulspapier heißt es dazu: »Ein vergleichbares Anspruchs- und Qualitätsniveau in allen geistlichen und seelsorgerlichen Kernvollzügen zeichnet die Erkennbarkeit und Beheimatungskraft der evangelischen Kirche aus.«20 Wie aber kann dieser hehre Anspruch bis 2030 flächendeckend verwirklicht werden? Nicht jeder Prediger hat das Format eines Eberhard Jüngel. Rudolf Bohren weiß Rat: »Ein unbegabter Prediger aber wird mehr und besser wirken, wenn er eine gute Predigt übernimmt, als wenn er mit einer selbstgemachten scheitert.«21 So kann das Plagiat auf der Kanzel zur Qualitätssicherung der EKD22 beitragen.

Werden Predigten kopiert und nachgesprochen, so droht keine Gefahr der Separation und der Formulierung allzu kühner Gedanken. Gerhard Ebeling sah in Luthers Kirchenpostille ein Instrument, eigenmächtiger, schwärmerischer und sektiererischer Predigt zu wehren.«23 Fraglos fördert auch das Übernehmen von Predigten die Einheit der Kirchengemeinschaft.24 Dass so die Vielstimmigkeit des Protestantismus verringert wird, ist die Kehrseite dieses Gedankens.

Die Nachteile der Benutzung fremder Predigten

Mit wenigen Klicks kann sich der Prediger eine gebildete Kanzelrede im Internet ziehen. Die Bildung, die in dieser Predigt enthalten ist, leiht sich der Prediger. Dass es nicht ganz unproblematisch ist, wenn man sich mit fremden Federn schmücken möchte, zeigt Äsops Fabel von der hochmütigen Dohle und dem Pfau25: Die Dohle wird am Schluss von ihresgleichen verstoßen. Lebt der Prediger, der mit einer fremden Predigt auf der Kanzel war, in ständiger Sorge, dass sein Vorgehen erkannt wird?

Durch das Verlesen einer dem Prediger selbst bis vor kurzem noch fremden Predigt, wird der Akt des Predigens stark auf das Geschriebene fixiert. Wäre heute nicht eher eine freie direkte Ansprache der oft kleinen Gemeinde geboten?

Unterbleibt nicht auch bei einem Plagiat auf der Kanzel der Vorgang der Adaption der Predigt auf die je konkrete Situation der Hörergemeinde? Zudem ist die fremde Predigt an die eigene Sprache zu adaptieren. So gibt es einen Bruch in der Kanzelrede, wenn ein betulich redender schwäbischer Pfarrer in seiner Weihnachtspredigt den Ausruf »Papperlapapp« nicht in seine eigene Sprache übersetzt hat.

Predigen schreiben und halten erfordert die ständige Auseinandersetzung mit biblischen Texten und der Situation. Wer allsonntäglich nur Fastfood auf der Kanzel serviert, dem wird über kurz oder lang das Anfertigen von eigenen Predigten fremd werden.

Zu fragen ist natürlich auch, nach welchen Kriterien in den gängigen Internetplattformen Predigten ausgewählt werden. Sind die dort eingestellten Predigten sprachlich brillant, exegetisch fundiert, ausgewogen im Sinne eines Gender Mainstreams, politisch opportun, oder besonders ideenreich?26 Festzuhalten bleibt, dass in den Predigtportalen ein neues theologisches Machtzentrum (sine vi, sed verbo) entstanden ist.

Kann eine im Internet gezogene Predigt zur vollmächtigen Verkündigung führen? Oder wird nicht immer eine Distanz zwischen Prediger und dem vorgelesenen fremden Wort bleiben, die auch dem Hörer nicht verborgen bleibt?27 Zu fragen wäre zudem, ob der Prediger, der ein Plagiat vorträgt, nicht in die Rolle eines Schauspielers kommt.

Und schließlich: Hat eine authentische Predigt nicht einen kreativen Vorlauf, einen Prozess, in dem im Alltag an vielen Orten, in vielen Medien und Gelegenheiten gesucht, verworfen und gefunden wird? Vorbild des suchenden Predigers könnte Charly Chaplin sein. Dieser sagte auf die Frage, wie man als Künstler zu seinen Einfällen komme: »Indem man bis an die Grenzen des Wahnsinns beharrlich bleibt. Man muss die Fähigkeit haben, über lange Zeit Seelenqualen zu ertragen und dann wieder den Enthusiasmus durchzuhalten. Vielleicht ist das für manche Leute leichter als für andere – ganz sicher scheint mir das aber nicht.«28

Das Plagiat auf der Kanzel hat ein bisschen etwas von einer Fastfood-Mahlzeit, die selbst erarbeitete Predigt hingegen gleicht einem mit der Mühe des Einkaufs und mit Lust zubereiteten Gericht.

Warum gehen manche PfarrerInnen mit einer nicht selbst erarbeiteten Predigt auf die Kanzel?

Der naheliegendste Grund ist die Arbeitsökonomie. Neben den vielfältigen Aufgaben, die im Alltag des Gemeindepfarramts zu bewältigen sind, fehlt Pfarrerinnen und Pfarrer schlichtweg die Zeit, noch eine eigene Predigt zu erstellen.29 Warum gibt es für viele Pfarrerinnen und Pfarrer für das Erarbeiten einer Predigt keinen Raum in der Herberge des pastoralen Alltags? Offensichtlich ist vielen Pfarrerinnen und Pfarrern die Kraft bzw. der Wille zur Erarbeitung einer selbst gefertigten Predigt abhanden gekommen. Dass der pastorale Alltag mit so vielen anderen Aufgaben überfrachtet wird, so dass eine sorgfältige Predigtvorbereitung unmöglich ist, müsste Kirchenleitungen alarmieren.30

Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich auf der Kanzel mit einer fremden Predigt begnügen, als Verstummte weit hinter dem selbst formulierten Leitbild Evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer zurück. Dort heißt es: »Pfarrerinnen und Pfarrer als Predigerinnen und Prediger verkündigen öffentlich das Wort Gottes … Sie bringen ihre persönliche Existenz, ihre Fragen, ihre Zweifel und ihre professionellen Fähigkeiten in Einklang. Sie pflegen geistliches Leben alleine und in Gemeinschaft. Ihr Ziel ist, glaubwürdig theologische Existenz zu verwirklichen.«31

In vielen Fällen führen die hohen Erwartungen der Predigthörer, die allsonntäglich eine originelle, gebildete Kanzelrede auf hohem sprachlichem Niveau erwarten, sowie der Konkurrenzdruck, zum Klick auf die Tastatur, um im Internet eine fremde Predigt zu ziehen.32 Bohren gibt zu bedenken, ob sich hinter dem Verzicht auf das Erstellen einer eigenen Predigt eine »Verachtung der vorfindlichen Gemeinde, die nicht mehr um die Verheißung der kleinen Herde weiß, sondern konstantinisch denkt und die Macht in der Armut des Wortes verkennt«33, vorliegen könne.

Ob solch eine Feststellung für einen Pfarrer, der seinen eigenen Gedanken, Erfahrungen und Einsichten nicht mehr traut, hilfreich ist, mag bezweifelt werden. Interessant ist der Blick auf die traditionelle Sündenlehre. Unsere Fragestellung führt uns zur Hauptsünde der acedia.34 Acedia, die Trägheit des Herzens, umfasst nicht nur die Trübung des Willens und Verdunkelung des Gemüts, sondern auch den Verlust der Tatkraft. Jeder, der Plagiate auf der Kanzel als solche entlarven möchte, sei gewarnt. Er hat es hierbei mit einem äußert sensiblen Bereich pastoraler Existenz zu tun. Der Prediger, der einem fremden Wort mehr zutraut als seinem eigenen, handelt unter Umständen aus Not heraus, die bis zur inneren Leere, gar einem Burn-out-Syndrom reichen kann. Seelsorge an Predigerinnen und Predigern ist hier gefragt.

Und doch wäre da noch ein Einwand

Obwohl das Nachsprechen fremder Predigten juristisch möglich, theologisch begründbar, äußerst kreativ, seelsorgerlich hilfreich sein kann und sogar den Qualitätssicherungszielen der EKD entgegenkommt, bleibt trotzdem ein Einwand. Herr Z., der am Geburtstagstisch vom Plagiat auf der Kanzel berichtete, erwartet von seinem Pfarrer nicht das Verlesen einer fremden Predigt, sondern jeden Sonntag eine neue, originelle, theologisch differenzierte, selbst konzipierte Kanzelrede, die dieser Pfarrer auch noch mit seiner ganzen Existenz glaubhaft lebt. Für ihn ist die Predigt, die er zuvor von einem Lektor gehört hat, nur ein Plagiat.

Das Wort »Plagiat«35 als Bezeichnung für Wortdiebstahl ist erst seit der Frühneuzeit verbürgt. Es soll auf den spätantiken römischen Dichter Martial zurückgehen. Dieser beschuldigte einen Konkurrenten, seine geistigen Kinder geraubt zu haben, und nannte diesen daraufhin »Plagiarius«, Menschenräuber oder Kindesräuber.36 Nun ist ein Plagiat an sich nicht strafbar. Wenn das plagiierte Original aber dem Urheberrecht unterliegt, verstößt der Plagiator dagegen. Dies ist, wie wir gesehen haben, bei Predigten nicht der Fall.

Ein Blick in die Geschichte der Autorenschaft zeigt, dass die Idee geistigen Eigentums und die Figur des modernen Autors vor 200 Jahren noch grundlegend umstritten waren. Noch Freiherr von Knigge meinte, dass Weisheit, Wahrheit und Witz Allgemeingüter wie das Meer oder die Luft darstellten.37 Erst nach Knigge erfolgte der Prozess der Personalisierung und individuellen Zurechnung von Wissen zu einem Autor. Davor war Nachahmung selbstverständlich. Das Ideal der Originalität ist ein Produkt des 19. Jh.

Und hinter dem Einklagen des Eigenen und Originellen kann sich auch bornierter Provinzialismus verbergen. Das Eigene kann auch erschöpfen und langweilen. Jeder Gottesdienst ist auf das Fremde angewiesen. Fulbert Steffensky formuliert poetisch: »In der fremden Sprache spiele ich mehr als ich bin … Ich kann mir Stimme leihen bei denen, die mehr Sprache haben. Wenn die Unruhe des Lebens uns verzehrt und uns selber die Sprache schwerfällt, können wir uns einen Spruch und ein Lied leihen, etwa von Johann Franck aus dem 17. Jahrhundert, und singen: »Tobe, Welt und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh!« Ich leihe mir die Sprache meiner Geschwister, der lebenden und der toten, und lasse das Leben nicht stumm.«38

Es ist an der der Zeit, die überzogenen Originalitätsansprüche der Hörerinnen und Hörer an eine Predigt infrage zu stellen. Die Zeiten des romantischen Geniekults des 19. Jh. sind vorbei. Der einsame Poet Carl Spitzwegs, der unter inneren Qualen unter dem Regenschirm mit der Feder sein Werk erstellt, hat als Ideal ausgedient.

Zusammenfassung

Das Nachsprechen fremder, nicht selbst gefertigter Predigten auf der Kanzel ist heute weit verbreitet. Diese Praxis ist theologisch begründbar, juristisch unbedenklich, Kreativität fördernd, für Predigerinnen und Prediger entlastend. Dass Predigten umsonst weitergegeben werden, ist Kennzeichen des anbrechenden Gottesreiches. Weil auf der Kanzel jedoch Zeugenschaft und Authentizität gefragt ist, kann erwartet werden, dass die Maxime des Apostels Paulus: »Prüft aber alles und das Gute behaltet.« (1. Thess. 5,21) beherzigt wird. Konkret heißt dies: Der Prediger ist herausgefordert, das fremde Wort zu prüfen, zu meditieren, zu kauen und in einem sorgfältigen, kreativen und gleichzeitig schmerzvollen Prozess theologischen Abwägens und Spielens zu seinem eigenen Wort zu machen.

Anmerkungen:

1 Seit 2000 wird alljährlich der Plagiarius Preis Innovation contra Imitation verliehen, vgl. www.plagiarius.com.

2 Quelle: Tagesschau.de, Meldung vom 2.4.2007: »Plagiats-Museum Solingen«.

3 So berichtet Debora Weber-Wulf, dass sie im Sommersemester 2001 an der FHTW Berlin 34 Hausarbeiten zu korrigieren gehabt habe; davon seien 12 Arbeiten als Plagiate überführt worden. Vgl. C’t magazin für Computertechnik, 2002, Heft 1, S. 69 Dem Verfasser sind keine Erhebungen bekannt, die Plagiate auf der Kanzel zum Gegenstand haben.

4 wdr.de Meldung vom 13.02.2006, Ritter Merz: Pointen aus dem Internet.

5 www.predigten.uni-goettingen.de, s. »Häufig gestellte Fragen« (500.000 Einzelzugriffe).

6 Ebd. Erstaunlicherweise wird diese These fast nicht kommuniziert. Juristisch ist dies durch das Kanzelrecht abgesichert.

7 TRE, Band V, S. 247, Art. Predigt, Irenäus haer. 1,10.2: »Von daher ist es nicht statthaft, dass Predigten verkauft werden.«

8 Bohren, Rudolf, Predigtlehre, S. 379 »Zum Gespräch mit den Väter und Brüdern gehört das Hinhören auf ihre Predigt … Vor mir und neben mir haben andere diesen Text ausgelegt und ich darf davon profitieren.«

9 Ebd.

10 Niebergall, Alfred, Leiturgia II, 238.

11 Postille = hergeleitet von der lateinischen Sequenz: »post illa verba.« Wer die Visitationsberichte am Beginn der Reformation liest, der wird die Notwendigkeit, Haus- bzw. Kirchenpostillen zu verfassen, erkennen. Zunächst erschienen Luthers Postille auf Latein. Erst in der zweiten Überarbeitung erschien der homiletische Bestseller in deutscher Sprache, da er die patres familiarum zur häuslichen Verkündigung befähigen wollte.

12 Bohren, Predigtlehre, S. 379, zitiert Baudelaire: »Mir ist gleichgültig, auf welchem Mist meine Blumen wachsen.«

13 Leuenberger, Robert, Berufung und Dienst, 1966.

14 Vgl. Plagiatsvorwurf an Intendeant Manfred Beilharz, der seine Salomoinszenierung an der Oper in Wiesbaden von Carlos Wagner gekupfert haben soll. Der Vorwurf des Plagiats gehe aber juristisch in die Irre, sagte Beilharz dem 3sat-Magazin »Kulturzeit«. Ein Plagiat könne es nur von einem urheberrechtlich geschützten Werk geben, eine Inszenierung sei kein solches Werk. (dpa)

15 Goethe, Eckermann, 17.2.1832.

16 Brecht, Bertolt, Neue Technik der Schauspielkunst, GW 16, 714.

17 Lethem, Jonathan, in: Literaturen Journal für Bücher und Themen 06, 2007, S.59-63: Autoren aller Länder, plagiiert euch!

18 Josuttis, Manfred, Über den Predigteinfall, in: Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit, München 1985, S. 83. Josuttis verweist auf Studien, die ergeben haben, dass in Gruppenarbeit zwar die Anzahl der Ideen erhöht wird, jedoch die Qualität im Vergleich zur Einzelarbeit nicht gesteigert wird.

19 So Lektoren- und Mesnerpfarrer Hans-Peter Ziehmann, Stuttgart.

20 Impulspapier der EKD, Kirche der Freiheit, Hannover 2006, S. 48.

21 Bohren, Predigtlehre, S. 200.

22 Dass diese Art der Qualitätssicherung durch eine katholisch anmutende zentralisierte Vereinheitlichung erfolgt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

23 Ebeling, Gerhard, Evangelische Evangelienauslegung, 1962, S. 30ff.

24 Epheser 4,3-6 (»Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen«) könnte man frech mit dem Zusatz »und eine Predigt« ergänzen.

25 Zitiert nach www.klassphil.uni-muenchen: »Aesopia«, Jan Novák/Walter Stroh. Die Fabel Aesops basiert auf Geschichten von Phaedrus: »Einst lebte eine Dohle, voll von eitlem Stolz, die stahl sich Federn, die dem Pfau entfallen warn und putzte sich damit. Das eigne Dohlenvolk verachtend trat sie in der schönen Pfauen Reihn. (folgt der Pfauenwalzer) Der Unverschämten reißt man hier die Federn aus, jagt sie mit Schnäbeln. Und die Dohle, bös verbleit will wieder nun betrübt zu ihrem Volk zurück. Die aber stoßen sie von sich, mit herbem Schimpf. Und eine derer, die zuvor verachtet, sprach zu ihr ›hätt?unsre Lebensart dir vormals conveniert, hätt?st du, was die Natur dir schenkte, akzeptiert, dann wär dir weder jene Schande widerfahrn noch müsstest du zum Unglück jetzt verstoßen sein.‹«

26 Siehe Anm. 5. Der Hinweis (»Die Herausgeber sind dankbar für Hinweise auf überdurchschnittliche Predigerinnen und Prediger (E-Mail-Adresse erforderlich), die in der Lage sind, eine Predigt fünf Tage vor dem jeweiligen Sonn- oder Feiertag fertig zu stellen.«) jedenfalls lässt viele Fragen offen.

27 Vollmacht im Sinne Ernst Langes verstanden »als Zuversicht, dass man dem dient, der wahr ist und sich als Wahrheit aller Wahrheit und Wirklichkeit endlich erweisen und durchsetzen wird.« (Lange, Ernst, Predigen als Beruf, S. 186)

28 Chaplin, Charly, Die Geschichte meines Lebens, Frankfurt, 1964, S. 213.

29 Josuttis, Manfred, Der Pfarrer ist anders, Der Pfarrer und die Zeit, S. 128ff, hier S. 137: »Speziell für den Pfarrer spitzt sich die Zeitdiffusion noch zu, weil auch in seinem Wochenablauf nicht mehr eindeutig feststeht, in welchem Bereich das Schwergewicht seiner Arbeit liegt.«

30 Vgl. Art. 7 Confessio Augustana »Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et administratione sacramentorum. (BSLK, S. 61)

31 Vgl. Das Leitbild der Vereine Evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V. 2001.

32 Dass der schnelle Klick zur Predigt nicht nur ein westeuropäisches Phänomen ist, berichtet IDEA-Spektrum 11/2008: Dort wird der polnischen Medienrechtler Prof. Tomasz Naganowski zitiert, der zu dem Phänomen, dass mehr und mehr katholische Priester, vor allem jüngere, Predigten aus dem Internet herunterladen: »Dabei handelt es sich um Diebstahl geistigen Eigentums und damit um einen Gesetzesverstoß: Ein solcher Priester lügt und stiehlt.«

33 Bohren, Predigtlehre, §11 III Exkurs: Vom Gebrauch fremder Predigten, S.198-203, hier S. 200.

34 Aufschlussreich ist, dass der Mönch Euagrios Ponticus im 4. Jh. acht negative Eigenschaften, von denen die Mönche heimgesucht werden suchen können, definiert hatte: Neben Hochmut, Ruhmsucht, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Trägheit war für ihn auch die »tristitia« (Traurigkeit) ein Laster. Papst Gregor I fügte dem Lasterkatalog den Neid hinzu und fasste Ruhmsucht und Hochmut, sowie die Trägheit und Traurigkeit zusammen, sodass er auf die Siebenzahl des Lasterkatalogs kam.

35 Definition von Paul Englisch: »Plagiat ist also die aus freier Entschließung eines Autors oder Künstlers betätigte Entnahme eines nicht unbeträchtlichen Gedankeninhalts eines anderen für sein Werk in der Absicht, solche Zwangsanleihe nach ihrer Herkunft durch entsprechende Umgestaltung zu verwischen und den Anschein eigenen Schaffens damit beim Leser oder Beschauer zu erwecken.« (Englisch, Paul. Meister des Plagiats oder Die Kunst der Abschriftstellerei. Hannibal-Verlag Berlin 1931)

36 Zitiert nach www.plagiat.fhtw-berlin.de: Debora Weber-Wulff, Fremde Federn finden. Kurs über Plagiat – dort, Martial I,51.

37 Bosse, Heinrich, Autorenschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Ferdinand Schöningh Paderborn, S. 50.

38 Steffensky, Fulbert, Kirchentag 1991, In der Kirche heimatlos, Manuskript, S. 3.

Über den Autor
Peter Schaal-Ahlers ist Pfarrer für City-Kirche und Öffentlichkeitsarbeit im evang. Kirchenbezirk Esslingen bei Stuttgart.

Q: Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 7/2008