kontrovers: „Glauben ist eine dialektische Schlacht“ – Interview mit Matthias Matussek und Martin Walser

Papstmessen haben großen Zulauf, Kirchentage werden geradezu gestürmt, Religion hat wieder Konjunktur. Der Schriftsteller Martin Walser und der Publizist Matthias Matussek diskutieren sehr persönlich über die Renaissance des Glaubens. Das Gespräch führte Christine Eichel. – Eichel: Herr Walser, Sie sprechen nicht von Gläubigen, sondern von religiös Begabten. Würden Sie sich selbst so bezeichnen? – Walser: Wenn das jemand von sich behauptet, muss er schon ein großes Selbstbewusstsein haben. Ich habe einige Leute kennengelernt, die eine deutlich spürbare, auffallende religiöse Begabung haben. Dafür spielt sicherlich eine religiöse Kindheit…  …eine große Rolle, und es sind zumeist Menschen, die in einem wichtigen Teil ihres Wesens kindheitlich bleiben. Schubert und Mozart zum Beispiel wurden nie wirklich erwachsen und hatten eine große religiöse Begabung. Wer nichts als erwachsen sein will, verliert diese Dimension.

Eichel: Gehört dazu eine gewisse kindliche Unschuld?
Walser: Religiöse Begabung kann Schuldigwerden nicht verhindern. Der Umgang mit dem Schuldigwerden jedoch kann auf religiöse Art geschehen.

Eichel: Herr Matussek, Sie kommen aus einem streng gläubigen katholischen Elternhaus und besuchten ein Jesuiteninternat. Wie steht es um Ihre religiöse Begabung?
Matussek: Ganz sicher hat Religiosität sehr viel mit der Kindheit und auch mit Kindlichkeit zu tun. Der biblische Satz: „Lasset die Kinder zu mir kommen“ bewahrheitet sich in der Tat. Wenn man das Staunen nicht hat, dann ist man religiös untalentiert. Ich bin in eine folkloristische katholische Sicherheit hineingeboren worden. Zu Ostern sind wir mit dem Weihwasser-Becken hinter meinem Vater hergelaufen und haben die Wohnung eingesegnet, so katholisch waren wir! Und als ich noch zu jung fürs Messdieneramt war, haben meine Brüder und ich sonntags die Messe zu Hause nachgespielt.

Eichel: Herr Walser, welche Kindheitserfahrungen haben Sie?
Walser: Viele Gleichaltrige in Wasserburg, wo ich lebte, waren Ministranten, doch ich hatte eine solche Hochachtung vor dem Lateinischen, dass ich mir so etwas einfach nicht zutraute. Ich hätte Lampenfieber gehabt, wenn ich lateinische Texte hätte aufsagen müssen…
Matussek:…es ist nie zu spät, Sie können es immer noch lernen!
Walser: Danke schön. (lacht)

Eichel: Herr Walser, prägende Erfahrungen haben Sie offenbar eher im Beichtstuhl gemacht. Sie sprachen einmal von der „Kultur der Gewissenserforschung“. Hat die Sie eher traumatisiert, oder sensibilisiert die Beichte für die Bewertung des eigenen Verhaltens?
Walser: Ich gehe nicht mehr zur Beichte, habe sie aber jahrelang praktiziert und mein Gewissen erforscht, wie man so sagt. Ich glaube, dass das eine Sportart ist: Wenn man sie einmal betrieben hat, behält man immer eine Gewissensmuskulatur (Gelächter), auf die man angewiesen ist, ob man will oder nicht. Meine Erfahrung war, dass man nichts bereuen kann. Um die Absolution zu bekommen, gehörte zwar der Vorsatz dazu, es nie wieder zu tun, das musste man dem Pfarrer versprechen. Aber ich habe es immer nur mit den Lippen getan – ich wusste, dass es nicht klappen wird. Das ist im Grunde genommen die Katastrophe von Anfang an, nicht wahr? Du beichtest, beichtest, beichtest, aber…
Matussek:…nee, nee, nee, da haben Sie etwas falsch verstanden! Man muss es nur richtig bereuen, dann ist die Sünde vergeben!
Walser: Na ja, Entschuldigung – ich habe natürlich nie bereut… (Gelächter)
Matussek: Da kann ich Ihnen jetzt auch nicht helfen…(Gelächter)
Walser: Ich habe immer nur so getan, als tue es mir leid. Aber im Innersten wusste ich: Ich werde es wieder tun, es geht doch gar nicht ohne. Ich weiß genau, wie ich zu Fuß heimgegangen bin, während es in mir orgelte und orgelte und ich mir Vorwürfe über Vorwürfe machte. Ich war ein Chor von Gewissenserforschern und sollte sie dirigieren – aber sie haben mir nicht gehorcht. Ich finde jedoch, gerade das ist es, was einen Menschen vielstimmig macht: Du wirst nie bloß mit einer Stimme denken oder sprechen.

Eichel: Ist das auch ein Spiel, diese serielle Absolution? Man sagt ganz kurz: Lieber Gott, nie wieder, aber vielleicht morgen früh…?
Matussek: In unserer Familie war es immer das ganze Paket – Samstagnachmittag kamen wir in die Badewanne, und nach dem Baden gingen wir zur Beichte. Man war also sauber, innen und außen (Gelächter) und hat sich gefühlt wie ein neugeborenes Lämmchen. Es war ein schönes Gefühl, völlig sündenfrei zu sein, zumindest für fünf Minuten. Bei uns gab es nur die kleine Komplikation, dass mein Vater mit uns zusammen den Beichtzettel machte: Big Brother was watching! (lacht) Das war eine kleine List von ihm, und ich vermute, dass wir damals angefangen haben, die Bilanzen zu schönen. Doch an das tolle Gefühl, die Sündenlast abzuwerfen, kann ich mich heute noch erinnern.
Walser: Wirklich?
Matussek: Ja!
Walser: Ich bin sie nie los geworden.
Matussek: Sicher scheint zu sein, dass es ohne Gott nicht geht. Die Christen haben halt den Vorteil, dass Gott Mensch geworden ist, weil Jesus als Sohn Gottes zu den Menschen kam. Die Figur Jesus ist die Konkretion Gottes, die für mich in der Kindheit zu einer großen Selbstverständlichkeit wurde. Dadurch wird auch das Problem der direkten Ansprache gelöst, wenn man betet.

Q: cicero