Ist jeder Wunsch jederzeit erfüllbar? – Kindheitsforscher Carsten Rohlfs lehrt als Vertretungsprofessor am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Jena. Zum Lebensgefühl einer neuen Generation interviewte ihn Ulrike Bretz.
Wie geht es der Jugend von heute?
Carsten Rohlfs: Den Jugendlichen geht es gut. Klar, sie haben auch viele Probleme und Ängste, aber auch viele Chancen.
Immer mehr Jugendliche trinken sich besinnungslos, die Gewalt nimmt zu, die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, nimmt ab – wo sind denn die Chancen, von denen Sie sprechen?
Rohlfs: Man darf nicht aus der Erwachsenenperspektive auf die Jugendlichen schauen. Es ist ganz typisch, dass die Generation vorher einen pessimistischen Blick auf die nachkommende hat. Ich zum Beispiel gehöre zu der Generation, von der man dachte, aus ihr könne nichts werden – wir waren die ersten Jugendlichen, die fast nur drinnen spielten und vor dem Fernseher saßen – eine domestizierte Kindheit. Den Generationen nach uns, gab man gar keine Zukunftsperspektiven mehr. Und nun haben wir die Generation Flatrate.
Warum dieser Begriff?
Rohlfs: Die Jugendlichen leben in einer Zeit, in der sie sich jeden Wunsch ständig und überall erfüllen können, per Mausklick oder mit dem Handy. Alles ist immer verfügbar, es gibt ein unbegrenztes Angebot von Waren und Inhalten. Wie beim Telefonieren zum Pauschaltarif – man kann unbegrenzt konsumieren, bezahlen muss man erst danach.
Aber es geht den Jugendlichen doch nicht nur ums Telefonieren.
Rohlfs: Nein, dieser Flatrate-Gedanke ist inzwischen in sämtlichen Lebensbereichen zu finden. Denken Sie nur an Musik: Wir saßen früher stundenlang vorm Kasettenrekorder, die Finger an den Aufnahmetasten, und warteten, bis im Radio endlich ein bestimmtes Lied kam. Wenn wir Pech hatten, quatschte der Moderator rein, wir drückten die falschen Tasten oder hatten Bandsalat. Wenn man heute ein Lied unbedingt haben will, geht man ins Internet und lädt es runter. Von Anfang bis Ende, ohne Gequatsche. Mit Filmen ist es das gleiche. Man geht nicht mehr in die Videothek, sondern lädt sich den Film im Netz herunter oder schaut ihn sich sich auf Youtube an.
Und wer eine Information will…
Rohlfs: … greift heute nicht mehr zum Lexikon, sondern gibt das Wort bei Google ein. Und ein Jugendlicher, der mehr über seine Flamme herausfinden will, geht einfach auf deren Facebook-Seite im Internet. Er schreibt dann keinen Liebesbrief mehr, sondern schickt einfach direkt eine SMS. Und weil sich die Kommuniktaion beschleunigt hat, wird er auch schnell eine Antwort erhalten. Großartig verabreden muss er sich nicht, man meldet sich einfach von unterwegs. Verabredungen verändern sich, die Sprache verändert sich, die Jugendkultur verändert sich.
Was halten Sie von dieser Veränderung?
Rohlfs: Die Jugendlichen haben es heute in vielen Dingen einfacher – daran ist erstmal nichts auszusetzen. Nur, dass es früher komplizierter war, seine Freizeit zu gestalten und Freundschaften zu führen, heißt nicht, dass es unbedingt besser war. Nehmen Sie das Beispiel Telefon: In meiner Kindheit, als man nur ein Telefon für die ganze Familie hatte, musste man warten, bis der Bruder fertig telefoniert hat und stand stundenlang auf dem Abstellgleis. Da haben es die Jugendlichen mit ihren Handys einfacher.
Also ist die Generation Flatrate zu beneiden?
Rohlfs: Einerseits ja. Aber es gibt schon auch Risiken. Eines ist die Anonymität – ein handgeschriebener Liebesbrief ist eben doch persönlicher als eine SMS mit Standardsätzen. Und wer ständig telefoniert oder vorm Laptop sitzt, kann nicht gleichzeitig seinen Freunden gegenübersitzen – das Face-to-Face-Gefühl fehlt. Ein anderes Problem ist, dass viele Jugendliche in den Irrglauben leben, es sei wirklich alles unbegrenzt. Man kann sich zwar alles herunterladen – aber am Ende kommt die Rechnung.
Es kann sich also nicht jeder leisten, zur Generation Flatrate zu gehören?
Rohlfs: Nein – denken Sie an die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Wer nicht genug Geld hat, ist außen vor, wenn es ums konsumieren geht. Viele Jugendlichen stürzen sich in Schulden, um dazuzugehören. Eltern können diesen sich ständig wandelnden Wünschen ihrer Kinder nicht immer nachkommen. Außerdem stehen die Jugendlichen durch die ständige Erreichbarkeit unter enormem Druck.
Das geht Erwachsenen aber nicht anders.
Rohlfs: Richtig – die Idee des Lebens zum Pauschaltarif ist nicht nur auf die Jugendlichen beschränkt. Die Grenzen verschwimmen. Schon Kinder halten sich im Internet auf, werden Mitglied in irgendwelchen Online-Clubs.
Das hört sich nun wieder negativ an.
Rohlfs: Soll es gar nicht. Die Entwicklung birgt ja eben auch Vorteile, viele Wünsche können erfüllt werden. Und die wichtigen Lebensthemen, wie Freundschaft, Zugehörigkeit und Autonomiebedürfnis, werden dadurch nicht verdrängt. Sie sind weiterhin da – genauso wie vor 50 Jahren.
Q: SZ.de