Lesung in Tübingen: Walter Jens‘ Sohn in der Höhle der Löwen (WELT)

tilmanjens-150x150Von Holger Kreitling (27.02.2009) – Am vergangenen Donnerstag las der Sohn aus seinem umstrittenen Buch über den demenzkranken Vater Walter Jens. In Tübingen war die Aufregung über „Demenz“ groß, die Leser warfen Tilman Jens Denunziation vor und riefen zum Boykott auf. Bei der Veranstaltung wurde klar: Viele haben das Buch missverstanden. – Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Walter Jens ist einer der prägenden deutschen Intellektuellen der Nachkriegszeit. In Tübingen, der Stadt des Geistes, der Lehre und der verwehten Dichtkunst, hat die örtliche Volkshochschule Plakate aufgehängt…  …, darauf steht eine freundliche kleine Mahnung. „Älter werden Sie von selbst. Klüger nicht!“ Das Ausrufezeichen gilt für alle Altersklassen, für Studenten, Mittelständler, Rentner. Der Bildungsbegriff in Tübingen schließt immer die Mühe und Pflicht ein, sich zu kümmern, und auch deshalb schlagen die Wellen wegen des demenzkranken Walter Jens aus Tübingen so hoch, der im Alter seinen Geist verlor und von Klugheit nichts mehr weiß.

Tilman Jens sitzt am Rande eines hohen, nüchtern weiß ausgekleideten Saals auf einer Leiter, die Arbeiter hingelegt haben. Sein Kopf ist gesenkt, die Wangen sind gerötet, er blättert in seinem Buch. Gleich wird er seine erste Lesung beginnen und in der Heimatstadt über seinen Vater sprechen, über den er ein schwer kritisiertes Buch verfasst hat. „Demenz. Abschied von meinem Vater? ist Krankenbeichte und Abrechnung, Mahnschrift und Polemik, sehnende Aufarbeitung und, ja, auch eine Liebeserklärung. Später wird er einmal laut werden, wird ein entschiedenes „Nein!“ in den Saal rufen, und beschwörend hinzufügen: „Ich habe unter diesem Vater nicht gelitten.“
Etliche Rezensenten haben dies anders verstanden; Gert Ueding, Walter Jens‘ Nachfolger auf dem Tübinger Lehrstuhl für Rhetorik, hat das Buch entschieden verrissen, dem Autor Rachemotive, Infamie, Scheinheiligkeit unterstellt.

Der Saal ist voll. In der ersten Reihe sitzt kerzengerade Inge Jens, die Mutter, 80 Jahre alt, seit fast 60 Jahren verheiratet mit Walter Jens, Mitautorin zahlreicher Werke. Sie hat die Pflegerin ihres Mannes mitgebracht, eine robuste, starke Frau von der schwäbischen Alb, die mit dem Mann nun spazieren, einkaufen, Kaninchen füttern geht und ihm abends „Wurstweckle“ gibt, die er so mag.
Tilman Jens widmet ihr bewegende Passagen, wenn er das späte Leben des nun 85 Jahre alten Vaters beschreibt, der so ganz anders ist als früher. Man spürt: Die Familie will zusammen halten, will den Sturmlauf in der Öffentlichkeit aushalten. So wie sie es immer getan hat, so wie Walter Jens aufgetreten ist, kämpferisch und mit offenem Visier.

Große Empörung in Tübingen

Denn besonders in Tübingen, dieser pietistisch geprägten Geistesstadt, ist die Empörung groß. Im „Schwäbischen Tagblatt“ erregen sich die Leser wortstark über den Vatermörder Tilman Jens, über Psychopornografie, Judaslohn, Voyeurismus, Denunziantentum. Bürger schreiben an die veranstaltende Buchhandlung: „Ich bin entsetzt, dass Sie in ihrem Hause eine Lesung dulden“ und rufen zum Boykott auf. Die Hochburg des Pietcong, wie die Pietisten Schwabens selbst von evangelischen Glaubensbrüdern mitunter bezeichnet werden, greift also zu scharfen Waffen, auch wenn Tilman Jens, der seine Heimatstadt genau kennt, dazu spottend „Boyköttle“ sagt. Vom Selbstverständnis der Stadt ist an diesem Abend viel zu sehen und zu hören.
Der Autor liest über seinen Vater, er hebt die linke Hand, um seine Worte wie ein Rhetor zu unterstreichen, die Finger zucken erregt, manchmal klappen Daumen und Zeigefinger zusammen, als wolle die Hand etwas im Raum festhalten. Jens lässt nichts aus; er erzählt von Windeln und Kuchengier des Vaters, von Tobsuchtsanfällen und Hilflosigkeit, er breitet die NSDAP-Mitgliedschaft aus, die Walter Jens bestritten hat, wissentlich verschwiegen hat, wie der Sohn schreibt.
Und er berichtet vom Sterbewunsch des Vaters in Momenten der Klarheit, die kurz darauf durch den geäußerten Seufzer „Aber schön ist es doch“ vom Tisch gewischt sind. Ein Eingreifen der Familie verbietet sich. Die Theorie der Sterbehilfe, an der Walter Jens selbst als Anwalt des Humanen mitformuliert hat, löst sich durch das Stammeln eines kranken Alten auf.

Im Buch werden Familiengeschichte, Demenzentwicklung und die Nazi-Episode des 19-Jährigen auf oft unglückliche Weise vermengt. Man liest die Passagen und denkt: Hier klagt einer gewaltig an, hier leidet ein Sohn an seiner Kindheit und begleicht Rechnungen mit dem Hilflosen. Aber im Saal in Tübingen klingt der Text anders. Tilman Jens liest mit warmer Stimme, nichts deutet auf Schauspielerei hin, er leidet mit dem Erzählten. Manchmal brechen ihm die heiklen Worte im Mund, die lakonisch geschriebenen Sätze bekommen Pathos, glaubwürdiges Pathos.
„Wie viel Kraft mag es sie kosten?“, liest Tilman Jens über seine Mutter, die nachts ihren Mann beruhigt und dafür gehauen wird, er schaut kurz zu Inge Jens herunter, als werde ihm klar, wie viel er da gerade preisgibt. Er will über Demenz und Alzheimer sprechen, diese verschwiegene Volkskrankheit, will als Aufklärer im Namen des Vaters streiten. Auch wenn der blanke Text zuweilen das Gegenteil verheißt.
Als die Lesung zu Ende ist, nickt der Autor in den höflichen Beifall hinein, erneut schaut er zur Mutter, nickt wieder. Geschafft.
Die meisten Tübinger sind, wie sie sagen, „mit Bauchschmerzen“ gekommen. Fast alle Redner stellen sich als ehemalige Studenten vor, als Doktoranden des Vaters. Die Universität ist immer noch der größte Arbeitgeber am Ort. Eine weißhaarige Dame steht auf und beginnt mit den Worten „Wir hier in Tübingen lieben ihren Vater, wir lieben ihre Mutter, wir lieben ihre Familie.“ Sie halten sich am Bild des geistigen Vorbilds fest, am linksliberalen Streiter der moralisch anständigen Bundesrepublik, und es ist in ihren Augen auch klar, dass man über Krankheit und Inkontinenz besser nicht spricht.

„Was ist an Windeln unwürdig?“

Überhaupt: die Windeln. Mehrfach wird Tilman Jens darauf angesprochen. Seine Stimme bricht, als er sagt: „Es war nicht meine Absicht, Vater in seiner Würde zu beschädigen.“ Und: „Was ist an Windeln unwürdig?“ Im Saal werden Köpfe geschüttelt.

[Viele Links, z.B.: Böser Abschied von einem bösen Vater]

Es gibt den bürgerlichen Konsens, der die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit eng zieht. In einem Städtchen, wo jeder alles weiß über den Nächsten, ist die Grenze noch wichtiger. Das Drama des Geistesverlustes, die Details des Kranken, der seine Bücher nicht mehr lesen kann, verletzt den Glauben an die geistige Lebensform, die in Tübingen so selbstbewusst ausgestellt wird. Tilman Jens will beruhigen, mäßigen. Der ausgebuffte Journalist ist vielleicht selbst erschrocken über die Heftigkeit, die sein Buch ausgelöst hat. Seine Worte bekommen einen hohen Ton, er sagt nun „unendlich sensibel“, „endlos gelitten“, „unendlich weh getan“. Das gefällt dem Publikum. Von geistiger Weite hört man gern.
Viel Doppelmoral ist im Spiel, vielleicht sind auch jene Apotheker der Stadt anwesend, die dem depressiven Walter Jens seine begehrten Benzodiazepine jederzeit ohne Rezept gaben. Die Familie fand Mengen von Psychopharmaka im ganzen Haus, auch zwischen den Fontane-Bänden versteckt.
Ein Mann stellt sich als einer der wenigen im Saal vor, der nicht studiert hat. Er sei Taxifahrer, und ihm gehe die Lobhudelei über Walter Jens „auf den Keks“. Vor vielen Jahren habe der Herr Professor ein Taxi zur Universität bestellt; er sei mit einer halben Stunde Verspätung gekommen und habe sofort „nach Hause“ gebellt. Als der Fahrer auf die Uhr zeigte, sei Jens sofort davongestürmt und habe sich sehr über den Taxifahrer beschwert. Der Saal ist unruhig, auch wenn einer „Ja, so war er“ ruft. Auch nur ein Mensch, da sind sich der nach langer Zeit noch verärgerte Mann und der Sohn sehr nah.
Das Denkmal Walter Jens hat seinen Platz auf dem Sockel, der Mensch in seinen Schwächen lebt unbeschädigt in seiner neuen Existenz weiter. Beides ist wichtig. Tilman Jens sitzt am Ende erschöpft auf einem Verkaufstisch, Inge Jens steht nun kerzengerade an der Bühne und parliert. Ja, die Tübinger sind an diesem Abend nicht bloß älter geworden, sondern auch ein wenig klüger.

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