Sühnopfer und Kreuzestod: Streit um WDR-Morgenandachten

kreuzigungHeftiger Streit um Morgenandachten im Westdeutschen Rundfunk: In fünf Beiträgen vertrat der frühere rheinische Superintendent Burkhard Müller (Bonn) die Meinung, Gott brauche kein Sühnopfer, um den Menschen vergeben zu können. „Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden zu befreien. Er ist gestorben, weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten.“ Nicht Gott habe seinen Tod gewollt, sondern seine Feinde. Diese Aussagen Müllers lösten unter den Hörern heftige Reaktionen aus. 250 Telefonanrufe gingen im Evangelischen Rundfunkreferat beim WDR in Düsseldorf ein, dazu etwa 200 Briefe und E-Mails. 

Viele Hörer haben das Manuskript angefordert

Überwiegend ablehnend und kritisch hätten sich vor allem Männer geäußert, teilte Rundfunkpfarrer Gerd Höft auf Anfrage von UK mit. Unter den Anrufern habe es aber auch 120 Stimmen gegeben, die sich positiv geäußert hätten. Außerdem hätten 250 Hörerinnen und Hörer das Manuskript angefordert, um es genauer zu studieren.

Der evangelische Rundfunkbeauftragte betonte, Müller habe mit seinen Äußerungen niemanden kränken oder verletzen wollen. Er habe mit seinen Andachten vielmehr eine wichtige theologische Diskussion aufgegriffen, die die Bedeutung des Todes Jesu auf neue Weise zu verstehen suche.

Abschied vom Sühnopfermahl?

Entzündet hatte sich der Streit bereits vor einigen Jahren an den Büchern des Berliner Theologie-Professors Klaus-Peter Jörns: „Notwendige Abschiede“ heißt eines seiner Bücher, die sowohl begeisterte Zustimmung als auch erbitterte Ablehnung erfuhren. Ein anderer Titel formuliert noch deutlicher, worum es ihm geht: „Abschied vom Sühnopfermahl“.

Ebenso wie vorher viele feministische Theologinnen wendet sich Jörns gegen die Vorstellung eines zornigen Gottes, der den Tod seines Sohnes braucht, um Menschen vergeben zu können. In seinen Augen wäre das ein „sadistisches Gottesbild“.

Gott braucht den Tod seines Sohnes nicht, um vergeben zu können

In der Tat ist diese Vorstellung auch durch Aussagen der Bibel nicht gedeckt. Benediktinerpater Anselm Grün bringt es auf den Punkt: „Gott braucht den Tod seines Sohnes nicht, um vergeben zu können, weil er bedingungslos liebt“.

Große Teile der neueren Theologie nehmen damit Abschied von den Gedanken des englischen Mönches Anselm von Canterbury, der vor knapp 1000 Jahren in juristischer Begrifflichkeit geradezu logisch beweisen wollte, dass der stellvertretende Tod Jesu am Kreuz notwendig war, um den Zorn Gottes über die menschliche Sünde zu sühnen.

Der Mensch kann seine Sünden nicht wieder gut machen

Ausgangspunkt seiner Überlegungen war, dass die menschliche Sünde eine Beleidigung Gottes ist und daher Strafe verdient. Da der Mensch zur Wiedergutmachung (Satisfaktion) verpflichtet, aber nicht imstande ist, kann sie nur von einem Wesen kommen, das zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch ist.

Durch seinen Tod hat Christus – wahrer Mensch und wahrer Gott – eine Genugtuung von unendlichem Wert geschaffen. Sein Verdienst überträgt er auf die Menschen, die dadurch von Schuld befreit werden.

Keine angemessene Deutung des Todes Jesu

In der neueren Theologie herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass diese „Satisfaktionstheorie“ keine angemessene Deutung des Todes Jesu bietet. Rolf Wischnath, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld, hält Anselms Lehre sogar für „einen der verhängnisvollsten theologischen Irrtümer der Christengeschichte“.

Auch der Heidelberger Theologe Gregor Etzelmüller stellt fest, dass das Neue Testament an keiner Stelle das Handeln der Henker mit dem Handeln Gottes, des Vaters, in eins setzt: „Die Vorstellung, Gott schlachte am Kreuz seinen eigenen Sohn, ist deshalb zu verabschieden.“

Tod nicht von Leben Jesu trennen

Wachsende Übereinstimmung gibt es in der gegenwärtigen Theologie auch darüber, dass der Tod Jesu nicht von seinem Leben gelöst werden darf. Denn Jesus wird ja aufgrund des Lebens, das er geführt hat, getötet – eines Lebens der Liebe und Hingabe.

Weil er sich denen zuwandte, die als Sünder, als Ausgestoßene, galten, stieß er auf Widerstand bei den Mächtigen seiner Zeit. „Sein Tod ist die Konsequenz des abgrundbösen Tuns seiner Peiniger, der frommen Spötter und der feigen Jünger“, so Wischnath. Nicht Gott übt also Gewalt. Jesus wurde vielmehr Opfer der Gewalt unter Menschen.

Jesus wurde Opfer der Gewalt unter Menschen

Gibt es dann keinen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und der Vergebung der Sünden, wie Burkhard Müller in seinen Andachten meint? Wer die Bibel genau liest, stößt immer wieder auf die Beziehung zwischen dem Tod Jesu und der Vergebung der Sünden.

Aber der Zusammenhang besteht nicht in der Weise, dass Gott vergibt, weil Jesus gestorben ist. Wenn Jesus nicht gestorben wäre, hätte Gott sonst ja nicht vergeben.

Gott brauchte die Römer nicht – er benutzte sie

„Gott brauchte die Bosheit der Römer nicht, er gebrauchte sie“, formuliert es der Heidelberger Theologe Klaus Berger. „Er hatte Gewalt und Blutvergießen nicht nötig, sondern er fand sie vor. Er ist nicht an den Weg der Grausamkeit gebunden, sondern verwandelt ihn ins Gegenteil“.

Gott bindet Vergebung also nicht an Gewalt, sondern antwortet auf Gewalt mit Vergebung. Jesus verkündete die vergebende Liebe Gottes schon während seines ganzen Lebens – und hielt sie durch bis zum Kreuz. Laut Lukas betet Jesus selbst am Kreuz noch um Vergebung für seine Mörder.

„Wenn wir Jesus am Kreuz selbst den Mördern noch vergeben sehen, dann dürfen wir vertrauen, dass es nichts in uns gibt, was Gott nicht vergibt“, so Anselm Grün. Der Blick auf das Kreuz ermöglicht also auch heute den Glauben an die vergebende Liebe Gottes.

Der Begriff des Opfers

In welchem Sinn aber kann man heute noch den Tod Jesu als „Opfer“ bezeichnen? Doch wohl nicht in dem Sinn, dass Gott das Opfer seines Sohnes braucht, um seinen Zorn zu besänftigen. Opfer ist für die Bibel „Darbringung, Geschenk, Gabe.“ Opfer ist in der Passion Jesu ein anderer Begriff für seine Hingabe. Jesus hat in seiner ganzen Existenz Hingabe gelebt bis in den Tod hinein. Diese Hingabe vollendet sich am Kreuz.

In diesem Sinne kann man auch den Gedanken der Stellvertretung verstehen: Was dort durch Jesus geschehen ist, hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Wenn an einer Stelle der Hass überwunden wurde, hat das den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen. Jesus hat eine neue Möglichkeit eröffnet, mit Hass und Feindschaft umzugehen.

Jesu Tod ist eine Folge der Sünde

Der Tod Jesu hat durchaus mit der Sünde zu tun. Zunächst einmal ist er Folge der Sünde. Denn Jesus wird aus Eifersucht und Hass den Römern ausgeliefert, von Menschen ans Kreuz geschlagen, die das Recht mit Füßen treten. Am Kreuz wird also die Sünde der Welt sichtbar. Jesus erleidet sie am eigenen Leib. Für die Menschen trägt er die Sünde, vergibt sie, damit Menschen davon frei werden.

Der Gedanke der Stellvertretung ist in der Bibel aber nicht nur auf Sünde und Schuld bezogen, sondern auch auf das Leiden. Jesus hat keine Erklärung dafür gegeben, warum Menschen leiden müssen. Er gibt eine Antwort, indem er selbst in das Leiden hineingeht. In diesem Sinne kann man sagen: Er trägt auch mein Leid mit. In ihm ist Gott mir nah in meinem Leid.

Autor: Wolfgang Riewe am 1.3.2009 für UK