(VON ANGELIKA LUDERSCHMIDT für den Rhein. Merkur) – An einem ganz normalen Tag geben wir viel von uns preis, ob wir wollen oder nicht. Beim Internet-Surfen ebenso wie beim Einkauf im Baumarkt. – Sieben Uhr fünfzehn. Der Wecker klingelt. Ein Funkwecker. Woher und wie er die Signale empfängt, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Nur, dass er in den Vereinigten Staaten nicht funktioniert, das weiß ich. Achselzuckend schalte ich mein Handy an. Habe gelesen, dass die Strahlung des Telefons neben dem Bett der Gesundheit nicht unbedingt förderlich ist… Die Begrüßungsmelodie ertönt. – „Latitude“ heißt der neue Ortungsdienst von Google. Über das Handy-Signal kann der Standort von Freunden bis auf wenige Meter genau auf Google Maps angezeigt werden. Unheimlich. Schließlich weiß im Umkehrschluss auch jeder, wo ich mich gerade aufhalte – vorausgesetzt ich melde mich auch für den Dienst an und gebe meine Zustimmung zur Ortung. Ich habe Nein gesagt. Immerhin, ein kleines Stückchen Freiheit.
Ich besitze weder das „G 1“ noch ein anderes GPS-Handy mit entsprechender Software. Noch nicht. Aber eines Tages wird jeder außer mir wissen, wann und wie lange Freunde oder Kollegen einkaufen, ob sie essen gehen oder im Kino sind. Und mit wem. Vielleicht werde auch ich dann Googles Beteuerungen glauben, dass die Daten niemals gespeichert, verkauft oder zur Erstellung von genauen Kundenprofilen ausgewertet werden.
Ich mache weder bei Preisausschreiben noch bei Umfragen mit, besitze keine Payback-, Bonus- oder Rabattkarte und sammle keine Herzen, Kleeblätter oder sonstige Aufkleber und Marken, die mir von der Supermarktkassierin mit Wechselgeld und Kassenzettel in die Hand gedrückt werden. Denn ich will weder das Topfset 7,95 Euro billiger, noch die Halskette zum Vorzugspreis, für deren Erwerb ich nicht nur 150 Herzen, sondern auch meine kompletten Daten auf einem Bestellschein angeben muss.
Meine Kreditkartennummer gebe ich grundsätzlich im Internet nicht an. Dank Lastschriftverfahren kann ich auch Zug fahren. Außerdem achte ich darauf, dass meine Daten sich nicht über eine (eigene) Homepage, Blogs oder Foren wie ein Virus verbreiten. Auch um soziale Netzwerke mache ich einen Bogen. Geburtsdatum, Hobbys, Reiseziele, Lieblingszitat, politische Richtung, Größe, Beziehungsstatus, Körperbehaarung, Krankheiten – bei Aussagen wie diesen möchte ich meinem Gegenüber gerne in die Augen schauen. Ich gehöre nicht zu den 68 Prozent Jugendlichen, die die meiste Zeit im Internet mit Facebook und Studi-VZ verbringen und offenbar davon ausgehen, sie befänden sich in einem privaten Raum. Auch dass von ihnen dank der freiwilligen Informationen ein genaues Werbeprofil erstellt werden kann, bedenken sie nicht. Die ZDF-Medienforschung hat dazu im März eine Studie veröffentlicht: Rund die Hälfte der 14- bis 19-jährigen MySpace-, StudiVZ-, Wer-kennt-wen-, Lokalisten- oder Spickmich-Mitglieder stellen auch Fotos von Freunden und Familienmitgliedern ins Netz – gerne auch mit Datum, Namen und Ortsangabe.
An der Generation der „Digital Natives“ bin ich knapp vorbeigeschrammt. Den ersten heimischen Internetzugang hatte ich mit 17 Jahren. Selbst der neueste technische Trend, das „Twittern“, also Zwitschern, ist nicht meine Sache. Zumindest nicht privat. Das überlasse ich Thorsten Schäfer-Gümbel („Kaffee zu schwach“), Barack Obama („We just made history!“) oder Heidi B. („Würde am Wochenende gerne wieder shoppen gehen.“). 140 Zeichen wird da allen Mitteilungsbedürftigen zugesprochen. Laut neuesten Statistiken hat über 90 Prozent des Geschriebenen keinen Informationswert für die Allgemeinheit. Dennoch reichen diese oft nichtssagenden und noch öfter narzisstischen Schnipselbotschaften als subjektive Momentaufnahmen, um berühmt und sogar von angesehenen Zeitungen zitiert zu werden, wie der Terroranschlag in Mumbai, die Notwasserung auf dem Hudson River oder der Amoklauf in Winnenden beweisen.
Meine Devise jedoch lautet: Ich will nicht gläsern sein. Doch meine Umwelt hat etwas dagegen.
Nach dem Frühstück rufe ich bei einem Handwerker an, den ich im Branchenbuch gefunden habe. Niemand hebt ab. Auf dem Weg zur Arbeit muss ich noch zur Bank. Zwei Videokameras beobachten mich von der Decke, wie viel Geld ich mir am Automaten ziehe. In der Redaktion angekommen, halte ich den Schlüssel an den Sensor. Der Türsummer brummt, und ich bin im Haus. Vergessen wird der Plastikschlüssel vermutlich nichts. Nicht wann und nicht wie lang ich im Büro bin. Ob er sich auch meine Mittagspausen merkt und einen Jahresdurchschnitt berechnen kann? Bevor ich mich in den Gedanken festbeiße, schalte ich den Computer an. Nun wissen dank des internen Mailing-Systems auch alle Kollegen, dass ich da bin.
Apropos Mails: Jede Nachricht, die ich versende, hinterlässt Spuren. Seit 2008 sind Anbieter von Telekommunikationsdiensten zum Zweck der Strafverfolgung verpflichtet, bestimmte Verkehrs- und Standortdaten, die bei der Nutzung von Telefon, Handy, E-Mail und Internet anfallen, für einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern. Telefonnummern, Anrufzeit, Mail- und IP-Adressen – Big Brother is watching me, egal, ob ich eine Pressestelle kontaktiere oder meiner Vermieterin mitteile, dass es aus dem Rohr am Waschbecken tropft. Da hilft es auch wenig, dass das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Vorratsdatenspeicherung Ende Februar besonders in Bezug auf das Internet als ungültig eingestuft hat und einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Datenschutz sieht. In einer demokratischen Gesellschaft sei dieses Handeln nicht notwendig, hieß es weiter. Dumm nur, dass es sich bei dem Beschluss nicht um ein Urteil, sondern lediglich um eine „juristische Meinungsäußerung“ handelt.
Ich habe Post, sehr viel Post. Seltsamerweise auch von mir selbst. So steht es zumindest im Absender. Den Hinweis auf einen extra breiten, extra rückenschonenden, extra robusten schwarzen Chefsessel habe ich mir da per Mail geschickt und eine Anleitung zur Vier- Tage-Turbodiät. Ein Zeichen? Wohl eher eine Dreistigkeit, auch technischer Art. Wie das Ganze funktioniert, ist mir ein Rätsel, ob es erlaubt ist, auch. Ein paar Minuten zuvor hat netterweise eine Bekannte ein Foto von mir auf ihre Homepage gestellt, mit vollem Namen und Mail-Adresse. Am Ende der automatischen Benachrichtigung steht blinkend in roten Lettern „Herzlichen Glückwunsch!“.
Ich brauche keine digitale Sozialmaschine und schon gar keine virtuelle Plattform zur Selbstdarstellung; sofort schreibe ich meiner „Freundin“ semi-freundlich, dass sie mich doch bitte löschen soll, und komme auf die Idee, mich zu googeln: 294 Treffer. Tendenz täglich steigend. Doch die meisten meinen nicht mich. Trotzdem verfolgt mich meine Vergangenheit. Mir passt es nicht, dass Hinz und Kunz meine bisherigen Lebensstationen im Internet abrufen können: Grundschule, Sportverein, Abifeier, studentische Lerngruppe, Auftritte, Praktika. Von jedem Ort, zu jeder Zeit. Wer stellt, ohne mich zu fragen, meinen Namen ins Netz? Und vor allem, wie profitiert derjenige davon?
Mittlerweile haben sich in Deutschland Dienstleistungsunternehmen mit ambitionierten Namen wie „Datenwachschutz“ oder „ReputatioDefender“ gebildet, die insbesondere fotografische Jugendsünden und andere offenherzige Informationen der zahlungswilligen Klienten aus dem Internet löschen – soweit es eben geht. Slogans wie „Sie haben Ihren Online-Ruf in der Hand, wir die Technik, um ihn zu optimieren!“ bringen immer mehr – zumindest ältere – Menschen dazu, Fotos, Videos und Kommentare tilgen zu lassen und je nach Kleingeld auch den Lebenslauf mit ein paar beeindruckenden Stationen „karrierewirksam“ aufzupolieren. Besonders beliebt: die Generierung von positiven Einträgen in Suchmaschinen. Die bessere Positionierung auch fingierter Web-Seiten bei Google und Co. gibt es bereits ab 20 Euro, pro Eintrag und exklusive Beantragungsgebühr, versteht sich. Nachprüfen kann diese „Generalsanierung“ des eigenen Images weder der zukünftige Arbeitgeber noch der interessierte Verehrer. Der Punkt geht also an die Technik.
Nach der Mittagspause muss ich ein Buch zur Recherche bestellen. Im Internet geht das schneller und erspart einen Gang in die Stadt. Auf der Startseite erscheinen Gegenstände und Bücher als Top-Tipps. Autoren und Themen kommen mir bekannt vor. Die Seite hat sich gemerkt, was ich bisher gekauft oder wonach ich gesucht habe, und bietet mir exklusiv – so glaubt sie zumindest – ähnliche Produkte an. Zum Beispiel Murmeln im Samtsäckchen. Seufzend blicke ich auf meinen letzten Einkauf, „Das Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse, und klicke das Angebot weg. Auch für das Barbie Phone Silver habe ich keine Verwendung. Nach kurzem Grübeln dann das Aha-Erlebnis: Letzten Monat hatte ich eine CD gekauft: „Der Barbier von Sevilla“. Mit Erleichterung stelle ich fest, Intelligenz lässt sich nicht erzwingen, auch nicht technisch. Den Punkt kann mir keiner streitig machen.
Feierabend. Zu Hause angekommen, habe ich eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Ein freundlicher Herr fragt mich, ob ich ein sanitäres Problem habe, ich hätte bei ihm angerufen. Wie sich später herausstellt, war es der Handwerker vom Morgen, der meine Telefonnummer auf dem Display sah und einfach die Rückruftaste drückte. Nun weiß ich also auch, dass meine Nummer übermittelt wird, obwohl ich erst Anfang des Monats im Vertrag meines neuen Telekommunikationsanbieters bei Rufnummerweiterleitung Nein angekreuzt habe.
Eine Glühbirne hat das Zeitliche gesegnet. Ich muss noch mal los zum Baumarkt. Am Eingang sehe ich mich überdimensional groß auf einem Flachbildschirm. Es ist niemand da, dem ich sagen könnte: „Ich will mich so nicht sehen!“ Immer noch traumatisiert, kämpfe ich mich durch die Gänge. An der Kasse bittet mich die Kassiererin um meine Postleitzahl. „Sag ich nicht“, denke ich und murmele dann doch die Zahlen.
Nach einem ganz normalen Arbeitstag merke ich kleinlaut, dass ich trotz Bedachtsamkeit nur begrenzt Einflussmöglichkeiten darauf habe, wie viele Spuren ich im realen wie im virtuellen Raum hinterlasse. Es sei denn, ich verbanne das Internet aus meinem Leben, schreibe nur noch Briefe, schalte beim Telefonieren die Rufnummernunterdrückung ein, meide Banken und Baumärkte und bestehe darauf, nur in einem Unternehmen mit Türglocke zu arbeiten. Dann wäre ich nicht mehr ganz so gläsern. Immer noch eine trübe Aussicht.
Q: Rheinischer Merkur Nr. 18, 30.04.2009