Twitter: Zwitschern für Millionen

twitterPresse, Promis, Politiker – wer etwas auf sich hält, nutzt die virtuelle Welt im Kampf um Aufmerksamkeit. Mittlerweile haben sich die Mini-Blogs vom bloßen Mitmachspaß zu einer ernst zu nehmenden Informationsplattform gemausert. Fragen zur Wirtschaft? Stellt sie an Präsident Obama“, lautet eine Nachricht. „Ist es kalt da oben?“, eine andere. Die erste ist eine Einladung, auf die Website des Weißen Hauses zu gehen und sich an das amerikanische Staatsoberhaupt zu wenden; die zweite stammt von Britney Spears, die sich auf das Wetter am Auftrittsort Vancouver vorbereiten will…  Für diese Mitteilungen nutzten die beiden ein soziales Netzwerk, das es seit 2006 gibt, aber erst im Laufe dieses Jahres erheblich an Beliebtheit und Relevanz gewonnen hat: Twitter. Wer sich unter twitter.com angemeldet hat und „mitzwitschern“ möchte (wie diese Zeitung unter twitter.com/RMonline), kann Kurznachrichten von maximal 140 Zeichen verschicken, die für jeden, egal ob registriert oder nicht, im Internet aufrufbar sind. Dass es sich bei den Autoren nicht immer um die handelt, deren Name über der Nachricht prangt, sorgte wie im Fall von Thorsten Schäfer-Gümbel („tsghessen“) Anfang des Jahres, hinter dem sich ein „Titanic“-Redakteur verbarg, für amüsante Verwirrung. Auch unter twitter.com/merkel_cdu meldet sich bei „Bin in den 1. Mai getanzt und habe dann in Berlin an einer Maidemonstration teilgenommen. Mal was anderes als immer nur Schweinegrippe“ nicht die Kanzlerin zu Wort. Von diesen Fakes gibt es viele.

Der Kern des Twitterns, auch Microblogging genannt, besteht darin, anderen zu folgen und selbst Gefolgschaft zu sammeln. Folgt ein Registrierter dem anderen, erscheinen all dessen Mitteilungen automatisch auf der eigenen Seite. Das Prinzip der Kontaktaufnahme mit einem Freund, einer Firma, einer Zeitung oder einem Prominenten besteht darin, sich zu abonnieren und möglichst viele „Follower“ zu gewinnen. Obama hat knapp über eine Million „Follower“ (einen entsprechenden deutschen Ausdruck gibt es noch nicht), Spears sogar über 1,3 Millionen. Die „New York Times“ hat die Zahl ihrer Follower innerhalb eines Monats auf mehr als 700 000 erhöht. Weltweit verfügen derzeit rund neun Millionen Menschen über einen Twitter-Account.

Von Beginn an unken Kulturpessimisten, in 140 Zeichen lasse sich nichts Substanzielles sagen, und zitieren aus dem sekündlichen Strom von Nachrichten Sätze wie „Freue mich: erster Sonnenbrand des Jahres“. Tatsächlich nutzen viele Menschen Twitter, um über Trink-, Ess- und Schlafgewohnheiten oder auch über das Kratzen im Hals zu berichten, das auf die Schweinegrippe hindeuten könnte. Deshalb kommt die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel zu dem Schluss: „Letztlich geht es bei Twitter darum, sich vor sich und anderen im globalen virtuellen Universum permanent selbst zu vergewissern.“ Es handle sich um eine „Vergewisserungskommunikation, die sich verselbstständigt“.

Damit macht es sich die Professorin aber zu einfach. Viele Nutzer schätzen Twitter mittlerweile als schnellsten Weg, andere auf Texte aufmerksam zu machen. Für sie gilt nicht: Ich twittere, also bin ich, sondern ich twittere, was ich lese. So bestehen die Nachrichten oft nur aus einem Lesehinweis. Wer anderen Twitter-Nutzern folgt, weil er ihre Kompetenzen, Interessengebiete und Lektüregewohnheiten kennt, kann sich ein individuelles Nachrichtennetzwerk zusammenstellen. Das ist nützlich für jemanden, der aus beruflichen oder privaten Gründen auf aktuelle Informationen angewiesen ist – und dankbar sein kann für jeden, der dazu beiträgt, wichtige Fakten und Meinungen aus dem täglichen Nachrichtenfluss herauszufiltern und auf Links zu verweisen, auf die man sonst nicht aufmerksam geworden wäre.

Der Blogger Jeffrey Wagstaff schrieb kürzlich, das Netzwerk der so gewonnenen Vertrauten sei entfernt vergleichbar mit der Redaktion einer Abo-Zeitung. Und der Journalist und Multimediakünstler Jesse Newhart rät: „Wende deine Zeit dafür auf, dich dadurch zu verbessern, was andere geschrieben haben.“ Als Urheber dieses Zitats, das laut Newhart nicht nur auf die Nutzung von Twitter, sondern auch anderer soziale Netzwerke zutrifft, gilt der Philosoph Sokrates. Kein Wunder, dass Zeitungen und Zeitschriften selbst zwitschern, um von der großen „Linksschleuder“, wie der Blog medienlese.com Twitter nennt, profitieren zu können. In den USA nutzten im März 17 Prozent aller Internet-User die Website des TV-Senders CNN, aber 38 Prozent aller Twitter-Nutzer. Die meisten Follower in Deutschland hat der Eilmeldungs-Account von „Spiegel Online“.

Immer mehr Journalisten meinen, dass es nicht ausreicht, mithilfe von Twitter auf eigene Beiträge hinzuweisen. Wie man die Microblogging-Plattform auch nutzen kann, schildert die Bloggerin Brittney Gilbert, die hauptberuflich für den in der San Francisco Bay Area ansässigen Sender CBS 5 tätig ist, anhand eines konkreten Falls: Einige Redakteure hatten in Erwägung gezogen, Geschwister zu interviewen, deren Vater gerade ermordet worden war. Die Mutter sei einverstanden gewesen, der Sender aber unschlüssig, so Gilbert. Daraufhin fragte CBS 5 seine Twitter-Follower, was diese über die Sache denken. Die Meinung der Mehrheit der zahlreichen Kommentare: Lasst die Kinder in Ruhe! Daran hielt sich der Sender. Diese Entscheidung hätten die TV-Journalisten auch selbst treffen können. Andererseits ist jene Begebenheit ein gutes Beispiel dafür, wie nach Auffassung mancher Experten die alten Medien mit ihren – potenziellen – Nutzern interagieren können. Twittern kann dazu dienen, direkt mit Lesern und Zuschauern in Kontakt zu treten, sie einzubeziehen in den Arbeitsprozess und somit die Grenze zwischen Absender und Adressat aufzubrechen.

Oliver Fritsch, Sportredakteur bei zeit.de, erkundigt sich zum Beispiel vor Interviews, welche Fragen die Follower an die jeweilige Person stellen würden. Gina Chen, Bloggerin und Redakteurin bei „The Post-Standard“ in Syracuse, schrieb kürzlich, Twitter-Nutzer aus der Bevölkerung hätten eine wichtige Rolle gespielt bei der Berichterstattung über einen Amoklauf in Binghamton/New York, bei dem 14 Menschen ums Leben kamen. Hierzulande dominierte, etwa in der Aufarbeitung der Berichterstattung über die Terroranschläge von Bombay und des Amoklaufs von Winnenden, die Besorgnis darüber, dass Twitter die Gefahr allzu schneller Falschmeldungen erhöhe. Chen vertritt dagegen die These, es liege in der Natur der Sache, dass zu Beginn der Berichterstattung über unübersichtliche Ereignisse wie Amokläufe, Anschläge oder Flugzeugabstürze Nachrichten in Umlauf kämen, die sich später als falsch herausstellten. Die meisten Leser, sagt sie, akzeptierten es, dass die Meldungen später korrigiert würden.

Wer macht überhaupt mit bei diesem System von Lesebefehl und Gefolgschaft? Die Plattform webevangelisten.de hat bei einer nicht repräsentativen Umfrage, an der im März 2800 Twitternde teilnahmen, herausgefunden, dass die Nutzer in Deutschland im Schnitt 32 Jahre alt, zu 74 Prozent männlich sind und mehr als die Hälfte von ihnen in der Medien- und Marketingbranche arbeitet. In einer ebenfalls nicht repräsentativen Untersuchung, die Annabell Preußler und Michael Kerres vom Lehrstuhl für Mediendidaktik und Wissensmanagement an der Universität Duisburg-Essen zur „Art und Intensität der Nutzung von Twitter“ durchführten, ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen etwas ausgewogener (61 zu 39 Prozent).

Bemerkenswert an den Studien: Twitter ist kein Teenager-Phänomen. In den USA sind zehn Prozent der Registrierten zwischen 55 und 64 Jahre alt, und damit ist ihr Anteil an der Zahl der Gesamtnutzer fast so groß wie der der 18- bis 24-Jährigen. Laut einer hiesigen Studie mit 3400 Teilnehmern ist Twitter mehr als 90 Prozent der Deutschen zwischen elf und 21 Jahren noch unbekannt.

Kritiker monieren, dass Twitter zum Zwitter aus Information und Werbung werden könnte. Unternehmen wie der Computerkonzern Apple bezahlen Twitterer, wenn diese Links zu Werbeseiten in ihr Textchen einbauen. Hierzulande ist eine Idee des Medienbranchendiensts turi2 umstritten: Der bietet Kunden Anzeigen im Twitterformat an – gestreut zwischen die normalen Kurznachrichten und formal von Letzteren nur dadurch abgegrenzt, dass der Text mit der Ankündigung „Anzeige“ beginnt. „Wenn sich die Kommunikation nicht mehr von der Werbung trennen lässt, dann ist es mit dem Vertrauen in das kommunizierende Medium schnell dahin“, kritisiert der Blogger Don Dahlmann. „Werbung als gekennzeichnete Fläche ist eine Sache, Werbung innerhalb des eigenen Textstroms jedoch nicht.“ Twitter selbst hat noch kein Geld verdient, doch das scheint die Investoren, die bisher 55 Millionen Dollar aufgebracht haben, nicht nervös zu machen. Machern und Geldgebern kommt es offenbar darauf an, dass die Nutzerzahlen steigen. Es gebe „viele interessante Möglichkeiten, Umsatz zu machen“, sagt Evan Williams, einer der Unternehmensgründer, lapidar. Branchengerüchten zufolge sind Google und Apple daran interessiert, den Senkrechtstarter zu kaufen. Der Preis wird auf mindestens 500 Millionen Dollar taxiert.

In der Welt der 140 Zeichen tummeln sich längst auch Unternehmen, die Twitter im Marketing oder bei der Mitarbeitersuche einsetzen, ebenso Umweltschutz- oder Gesundheitsorganisationen, die unter Mottos wie „Tweet to beat Leukemia“ zu Spenden aufrufen. Politaktivisten, die ohnehin bekannt dafür sind, sich neue Technologien früh anzueignen, nutzen Twitter zur besseren Planung von Protestaktionen. Zuletzt gab es Berichte, dass das Zwitschern bei regierungskritischen Demonstrationen in Moldawien eine Rolle gespielt haben soll. Anlässlich des evangelischen Kirchentags vom 20. bis 24. Mai in Bremen fordert die Plattform blog.evangelisch.de dazu auf, in dieser Zeit die Geschichten der Bibel auf 140 Zeichen zu komprimieren.

Skeptiker dürfte indes noch mehr überraschen, dass Twitter bereits in Bereichen wie Bildung und Medizin präsent ist. In der Online-Ausgabe des US-amerikanischen Magazins „The Chronicle of Higher Education“, plädiert Cole W. Camplese, Direktor für Bildungstechnologie an der Pennsylvania State University, dafür, während der Lehrveranstaltungen Twitter-Kommentare von Studenten an die Wand zu projizieren, um so die Diskussionen zu bereichern und herkömmliche Lehrformen aufzubrechen. Am Henry Ford Hospital in Detroit wurde kürzlich während einer Gehirntumoroperation getwittert. Ärzte, die die Operation beobachteten, protokollierten so wichtige Eindrücke, damit andere Spezialisten sich gegebenenfalls einschalten und Tipps geben konnten.

Solche Kurzmitteilungen können letztlich viel wichtiger sein als beispielsweise die sogenannte Twitteratur: Der brasilianische Autor Claudio Soares hat von seinem Roman „Santos Dumont Número 8“ eine Twitterversion angefertigt. Er richtete für acht Romanfiguren eigene Kanäle ein, in denen die Geschichte jeweils aus deren Blickwinkel erzählt wird – wobei die Follower die Möglichkeit haben, auf jede 140-Zeichen-Miniatur zu reagieren. Auf diese Weise entsteht eine interaktive Version des Romans. Vorreiter im deutschsprachigen Raum ist Christian Ankowitsch, der einen Twitter-Roman schreibt: Jede Kurznachricht ist ein Kapitel, bisher gibt es 92.

Der führende Literat in der Twitter-Welt ist Stephen Fry – zumindest wenn man die Zahl der Follower (rund 470 000) als Maßstab nimmt. Er berichtet über Arztbesuche und referiert Reiseeindrücke. Wie ein ganz normaler Nutzer eben.

Obiger Artikel im Original direkt hier, beim Rheinischen Merkur vom 07.05.2009 >>