Die Papst-Rede vor dem Deutschen Bundestag im Wortlaut

Vorbemerkung: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hat das ökumenische Gespräch mit Papst Benedikt XVI. gelobt. „Wir haben wirklich aufeinander gehört“, sagte er am Freitag (23. September 2011) in Erfurt nach dem Treffen mit Benedikt… Während des Gottesdienstes seien Protestanten und Katholiken „eine Kirche Jesu Christi“ gewesen. Dennoch müssten sie weiter arbeiten. „Unser Herz brennt nach mehr“, erklärte Schneider, auch wenn beide Kirchen bereits einiges erreicht hätten. „Wir haben ein gutes Fundament an Gemeinsamkeiten.“ Dazu gehöre die Taufe, die die evangelische und die katholische Kirche gegenseitig akzeptierten. Der Papst habe Martin Luther (1483-1546) stark und positiv gewürdigt. „Der Ort war sehr prägend für diese Begegnung“, sagte Schneider. Er hoffe, eines Tages auch bei den gemischt konfessionellen Ehen eine Annäherung beim gemeinsamen Abendmahl zu erreichen.

  • Lese-Tipp: „EKD würdigt die Begegnung mit Papst Benedikt XVI. im Augustinerkloster zu Erfurt – Viele Anknüpfungspunkte für das ökumenische Gespräch“ – WEITER auf ekd.de/presse >>

Am Tag zuvor (22.9.2011) hatte Papst Benedikt XVI. im Bundestag in Berlin gesprochen. Im Vorfeld war erheblicher Widerstand laut geworden. Doch dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ist ein wirkungsvoll-weiser Wortbeitrag gelungen. Welt.de titelte: „Wie Papst Benedikt XVI. den Bundestag überlistete. – Er hat Gegner und Anhänger verblüfft“


Anlass genug, die Papst-Rede im Wortlaut auf www.vitamin-c-online.com hochzuladen:

„Es ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen Haus zu sprechen (…). In dieser Stunde wende ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren – gewiss auch als Landsmann (…). Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. (…)

Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.

Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? (…) In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen. (…)

[Recht kann auch Unrecht sein]

Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. (…)

Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. (…)

Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. (…) Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erkennt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen.

[Nicht allein von Vernunft leiten lassen]

Das gleiche gilt (…) für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus.

Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewusstsein weithin der Fall -, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist. (…)

[Papst warnt vor Extremismus]

Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden.

Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbst gemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.

Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? (…)

[Lob für die Öko-Bewegung]

Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte (…). Ich würde sagen, dass das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er-Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseiteschieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet.

Jungen Menschen war bewusstgeworden, dass irgendetwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. (…) Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. (…)

[Kulturelles Erbe bewahren]

An dieser Stelle müsste uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben.

Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen – eines jeden Menschen – Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist. (…)“

it/dpa, 23.09.2011