Warum ich mich als Gauck-Fan vor Christian Wulff stelle

Von Helmut Matthies. – Um es vorweg klarzustellen: Vor der Wahl des Bundespräsidenten 2010 habe ich beim Pro und Kontra für Joachim Gauck votiert. Nicht weil er der Kandidat von SPD und Grünen war, sondern weil er für mich in seiner Unbestechlichkeit, aufgrund seines Charismas sowie durch seinen Mut, der SED-Diktatur zu widerstehen, ein idealer Bundespräsident wäre. Bundeskanzlerin Merkel hätte ihn als Zeichen der Überparteilichkeit des Amtes gemeinsam mit der demokratischen Opposition präsentieren sollen. Aber die Parteipolitik obsiegte…

Es grenzt an Menschenjagd

Obwohl mich Amtsinhaber Wulff wegen seiner penetranten Pro-Islam-Aussagen seit langem nervt, stelle ich mich jetzt als Christ vor ihn. Denn es grenzt langsam an Menschenjagd, was von sonst ganz unterschiedlich ausgerichteten Medien – vom „Spiegel“ bis hin zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“– mit täglich neuen Forderungen nach Klärung von Vorgängen aus seinem Privatleben erhoben wird. Dass sich jetzt ausgerechnet „Bild“ als „Saubermann in Nation“ geriert, ist ebenso ein Witz wie das Verlangen ausgerechnet der Vorsitzenden der SED-Nachfolgepartei „Die Linke“, Gesine Lötzsch, Wulff müsse zurücktreten, weil er „ein gestörtes Verhältnis zur Presse und zur Wahrheit“ habe. Mehr an Heuchelei geht wohl kaum! Lötzschs Ehemann war mehr als 20 Jahre Mitarbeiter der Stasi; sie selbst stellte als Büroleiter einen ehemaligen hauptamtlichen Stasimann ein. Viel Heuchelei auch bei den Journalistenkollegen, die dem Bundespräsidenten vorwerfen, einen günstigen Kredit in Anspruch genommen zu haben. Doch was ist denn mit den Hunderten Journalistenrabatten, die viele – angeboten von zahllosen Firmen – in Anspruch nehmen? Haben sie also positiv über ein Auto geschrieben, weil sie es günstiger erhalten haben?

Gilt Vergebung beim Staatsoberhaupt nicht?

Natürlich hat Christian Wulff Fehler gemacht. Gleichzeitig darf man von ihm auch nicht ständig Übermenschliches erwarten. Da ist sein Wutausbruch am Handy, als er auf Staatsbesuch in Arabien war – also in höchstem Stress. Kann man nicht seine Angst vor Medienleuten verstehen, wenn das Internet voll von Meldungen ist (die inzwischen auch von Zeitungen veröffentlicht worden sind), nach denen seine Ehefrau ein sehr gewöhnungsbedürftiges Vorleben haben soll?
Christian Wulff hat den „BILD“-Chefredakteur um Entschuldigung für seine Drohung gebeten. Sie wurde gewährt. Warum hacken dann trotzdem Journalisten wie Oppositionspolitiker immer noch auf diesem Thema herum? Gilt Vergebung nicht beim Staatsoberhaupt?

Wer wäre dann noch im Amt?

Aus der Wulff-Affäre ist also längst auch eine Medien-Affäre geworden. Wenn Journalisten alle Top-Leute in Politik, Kultur, Kirchen und in den eigenen Reihen so detailversessen nach dunklen Punkten untersuchten wie Wulff: Wer wäre noch im Amt – auch in den Chefetagen von Verlagen? Nach dem, was sich in Sachen Wulff abspielt (ähnlich war es bei Steffen Heitmann, der 1993 einstimmig von CDU/CSU als Kandidat für die Nachfolge von Richard von Weizsäcker nominiert worden war und völlig unbescholten ist), wird es schwer werden, überhaupt noch jemanden zu finden, der bereit ist, höchste Ämter zu übernehmen.

Wegen der gnadenlosen Kritik an seinem Amt – und das ohne wirklichen Anlass (!) – ist Wulffs Vorgänger Horst Köhler zurückgetreten, obwohl er laut Umfragen im Volk als einer der beliebtesten Bundespräsidenten gilt. Von Chefredakteuren, die sich – oft schon mehrfach – irrten in mit Spott und Häme vorgetragener Kritik, ist dagegen bisher kein Rücktritt bekannt.

Helmut Matthies