Wie Jugendliche religiös „ticken“

Der rasante Wandel der Gesellschaft, besonders der digitalen Welt, prägt die Jugend von heute. Oft verstehen 30-Jährige die 20-Jährigen nicht mehr. Wie Jugendliche religiös „ticken“, beschreibt der evangelische Pfarrer Alexander Garth…, Gründer und ehemaliger Leiter der Berliner Stadtmissionsgemeinde „Junge Kirche“, gegenüber der evangelischen Nachrichtenagentur idea (Wetzlar). Laut Garth, der seit dem 1. August für „Vineyard“ (Weinberg) in der Bundeshauptstadt arbeitet, sind junge Leute „gestresst und besetzt“: „Facebook, Partys, Events, Freunde, Schule, Studium, Beruf, Sport, Shopping, Fernsehen nehmen sie so in Beschlag, dass kaum noch Luft bleibt für Glaube und Kirche.“

Das Leben wird zum Amüsierbetrieb

Ihr Leben sei so vielfältig und widersprüchlich wie die aktuellen Modetrends und Ideologien. Selbst Insider fänden sich kaum noch in den Lebensstilen, Religionen, Subkulturen, Musikstilen, Szenen und Milieus zurecht. Zudem sei für die meisten jungen Leute alles im Übermaß vorhanden. So stünden beispielsweise 13 Millionen Musiktitel im Internet zum Herunterladen bereit. Garth: „Das Leben wird zum Amüsierbetrieb, zur Rundumversorgung mit Zerstreuung.“ Die Erlebnisorientierung werde zur Suche nach dem Glück und steigere sich zur „Sucht nach dem Kick“.

„Religion light“

Der frühere Streit um Ideologien oder Weltanschauungen sei einem Harmoniestreben gewichen. Junge Leute hätten ein Toleranzverständnis, in dem widersprüchliche Überzeugungen und Glaubensrichtungen gleichberechtigt nebeneinander stünden. Aggressiv werde der Ton nur, wenn jemand seine Überzeugung als absolut und verbindlich für andere hinstelle. Jugendliche suchten keinen dogmatischen, sondern einen subjektiven, pragmatischen und gefühlsbetonten Zugang zu Religion. In Gottesdiensten hätten Lobpreis und packende Momente große Überzeugungskraft. Es gehe um einen „spirituellen Kick“. Garth: „Glaube ist von Bedeutung, sofern er das Leben leichter, interessanter und peppiger macht.“ Die Trendreligion sei der Buddhismus, der friedfertig daherkomme, hilfreich gegen Stress sei und keine Dogmen kenne: „Religion light, gut verdaulich für das Ego, Genuss statt Muss.“

„Ich will es haben. Ich muss es haben. Jetzt!“

Zudem bestimme die digitale Welt alle Lebensbereiche. Junge Leute würden zugeschüttet mit Informationen über Handy, E-Mails und Soziale Netzwerke. Der Pfarrer: „Man kann sich mit jungen Menschen kaum ungestört unterhalten. Ständig fingern sie an ihrem Smartphone herum, um mit der Welt zu interagieren.“ Dabei seien sie oft mit verschiedenen Aktivitäten gleichzeitig beschäftigt, etwa Musikhören, Facebook-Kommunikation, Hausaufgaben. Viele Jugendliche lebten zudem in zwei Welten – in der realen und in der digitalen, in der sie sich eine neue Identität schafften: „Hier können sie endlich der sein, der sie im realen Leben gerne wären.“ Dadurch bestehe die Gefahr, dass Kontakte zu realen Menschen verlorengingen und die eigene Identität durch das Abtauchen in Scheinwelten verschüttet werde. Ferner könne es zu einer gesteigerten Konsumhaltung kommen: „Ich will es haben. Ich muss es haben. Jetzt!“

Jugendliche stellen sich ihre Privatreligion zusammen

Auch seien Jugendliche mit einer riesigen Fülle von Religionen, Weltanschauungen, Heilslehren und Philosophien konfrontiert. Allein in Berlin gebe es über 200 verschiedene Religionen sowie unzählige säkulare, atheistische oder esoterische Ideologien. Junge Leute stellten sich aus diesem Angebot wie in einem Supermarkt ihre individuelle Privatreligion zusammen: ein bisschen Buddhismus, ein bisschen Christentum, ein bisschen Marxismus, ein bisschen Esoterik und ein bisschen Umweltgewissen.

Echte Gemeinschaft ist gefragt

Allerdings suchen junge Menschen von heute auch nach echter Gemeinschaft: „Gerade bei Teenagern wird die Clique zum Familienersatz.“ Darin liegen laut Garth die größten Chancen für Christen: „Gute Gemeinschaft ist der Hauptwachstumsfaktor für die Jugendarbeit der Zukunft.“ Ferner stehe künstlerische Ästhetik hoch im Kurs. Mit viel Hingabe gestalteten Jugendliche Gottesdienste oder Partys. Auf dieser Ebene seien sie besonders empfänglich für die christliche Botschaft. Garth (55) plädiert dafür, die Wandlungen in der Jugendkultur als Chance zu sehen, die Bedeutung des Evangeliums für diese Generation neu zu artikulieren. (idea)