Die fünfte Gewalt des digitalen Zeitalters

Sie stürzen Politiker, sie initiieren Kampagnen, sie betreiben Selbstjustiz und jagen Verbrecher. Sie kritisieren klassische Medien, veranstalten grausame Mobbingspektakel – und erschaffen kluge Gegen-Öffentlichkeiten. Die vernetzten Vielen sind zur neuen Macht geworden… – Es war eine pfiffige und doch prophetische Idee, eine visionäre Spielerei. Als das Magazin Time im Jahr 2006 einer alten Tradition folgend den Menschen des Jahres auf dem Cover präsentierte, sah man kein Konterfei einer realen Person, sondern das Foto eines Computerbildschirms mit einer reflektierenden, das eigene Gesicht spiegelnden Fläche. Die Botschaft: Schau her, da bist du selbst, fähig zu publizieren und zu protestieren, eigene Themen zu setzen und die öffentliche Agenda zu bestimmen. „Es geht darum“, so begründete das Magazin die Wahl des digital vernetzten Individuums zur Person des Jahres, „dass die Vielen den Wenigen die Macht entreißen.“

Heute, ein paar Medienrevolutionen später, wird deutlich, dass tatsächlich eine neue Macht- und Einflusssphäre entstanden ist, eine fünfte Gewalt, die sich neben die Exekutive, die Judikative, die Legislative und die vierte Gewalt des traditionellen Journalismus schiebt. Diese fünfte Gewalt, die eigene Ideen in die Empörungskreisläufe einschleust, hat viele Gesichter, unendlich viele. Sie ist hässlich und grausam, klug und moralisch, mal am Gemeinwesen und einer funktionierenden Demokratie interessiert, dann wieder zerstörerisch. Mal zeigt sie die Fratze des Mobs, der entfesselten, anonymen Masse, die auf enthemmte Weise aus dem Dunkel heraus zuschlägt. Mal kommt sie in Gestalt der Trolle daher, der Empörungsjunkies und Affektaficionados, die einfach nur wüten, spotten, hassen und sich an der Reaktion auf ihre Aggression aufgeilen. Dann wieder begegnet man der fünften Gewalt unter den Sympathisanten der kleinen, energisch formulierenden Martha, die gerade mal neun Jahre alt war, als sie sich entschloss, fortan über ihr schrecklich verkochtes Schulessen zu schreiben und die Ekelfotos pappiger Mahlzeiten und trauriger Kroketten zu posten. Hunderttausende interessierten sich in der Hochphase für das schottische Mädchen und das Ernährungsschicksal von Schulkindern.

Schon diese spärlichen Schlaglichter zeigen: Die fünfte Gewalt ist radikal pluralistisch. Sie orientiert sich nicht an einer einzigen Ideologie. Sie hat kein großes, gemeinsames Thema, wohl aber gemeinsam genutzte Plattformen und ­Instrumente: soziale Netzwerke und Blogs, Wikis und Websites, Smartphones und leistungsstarke Computer, das gesamte Spektrum digitaler Medien.

Es ergibt keinen Sinn, die vernetzten Vielen nur als Mob zu präsentieren, auch wenn sie das grausame Mobbingspektakel und die vernichtende Attacke beherrschen. Und es ist ebenso wenig plausibel – dies wäre das andere Extrem – pauschal von einer digitalen Graswurzelbewegung zu schwärmen, die endlich mit ihren Notebooks die Welt zum Guten wendet. Jeder Versuch, die fünfte Gewalt als einheitliches Kollektiv zu fassen, sie prinzipiell zu verdammen oder aber grundsätzlich zu glorifizieren, führt in die Irre. Ihre große Gemeinsamkeit ist allein der Modus vernetzter Organisation. Ideologisch und weltanschaulich schillert sie in allen Varianten und Variationen.

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