Hat die Volkskirche ihre beste Zeit noch vor sich?

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schrumpft jedes Jahr um durchschnittlich etwa 250.000 Mitglieder. Die Austrittszahlen erreichen Rekordhöhen. Auch die zurzeit noch sprudelnden Kirchensteuereinnahmen werden in Zukunft abnehmen. Trotzdem hat die evangelische Kirche ihre beste Zeit noch vor sich, meint Pfarrer Alexander Garth (Berlin)…

Schaut man auf die Mitgliederzahlen, die Finanz­entwicklung und die schwindende Bedeutung des christlichen Glaubens in der Gesellschaft, so sehen die Prognosen für die Zukunft der EKD eher düster aus. Ein Kirchenleiter fasste die Situation so zusammen: „Wir werden älter und kleiner.“ In der Tat lässt eine Reihe von Faktoren den Schluss zu, dass die gesellschaftliche Gestaltungskraft der Volkskirche zurückgeht. Beobachter registrieren eine „Verdunstung“ des christlichen Glaubens als wirksame Größe in Deutschland und Europa. Viele Menschen können mit dem überlieferten kirchlichen Glauben und seinen Riten nichts mehr anfangen. Die Kirchenaustritte haben in der letzten Zeit zugenommen. Viele sehen keinen Sinn darin, eine ihnen fremde Institution mitzufinanzieren. Andere verlassen die Kirche, weil sie das, was sie an Spiritualität und Sinn suchen, in der Kirche nicht finden. Durch den demografischen Wandel und die steigende Zahl von Kirchenmitgliedern, die ihre Kinder nicht taufen lassen, ist mit einem weiteren Rückgang zu rechnen. Das wird sich ab 2017 auch auf die Kirchensteuereinnahmen auswirken. Einige Experten prognostizieren sogar bis 2030 einen Rückgang der Finanzkraft der evangelischen Landeskirchen um bis zu 50 Prozent.

Ein Kirchenmodell in der Krise

Dagegen boomt fast überall in der Welt das Christentum. Nur in Europa wirkt es müde und überaltert. Das Problem ist im Kern eine Krise des konstantinischen Kirchenmodells (nach Kaiser Konstantin, 272–337), das jahrhundertelang ziemlich erfolgreich war. Jeder Untertan gehörte demnach (mit Ausnahme der Juden) zur Kirche. Wer das nicht wollte, musste damit rechnen, ins Ausland oder gar ins Jenseits befördert zu werden. Auch die Reformation hielt an diesem System fest. Diese Ära geht zu Ende. Nach der formellen Trennung von Kirche und Staat nach dem Ersten Weltkrieg gab es auf einmal die Möglichkeit, ohne Kirche zu leben. Immer mehr Menschen machten davon Gebrauch. Noch vor 20 Jahren pflegten viele Verantwortliche in der Kirche die Überzeugung, es handele sich nur um ein vorüberziehendes Tief. Heute nötigen uns die nüchternen Zahlen zu dem Schluss, dass die Kirche der Zukunft eine andere sein wird und sein muss, wenn sie ihren Auftrag erfüllen will.

Alles abzubauen, ist der verwaltete Untergang

Das Problem einer schrumpfenden Kirche wird vor allem ökonomisch angegangen. Man versucht, den kirchlichen Betrieb auf die Größe herunterzufahren, die voraussichtlich finanziert werden kann. Das Ergebnis dieser Methode ist nicht etwa eine missionarische und zukunftsfähige Kirche. Sie wird sich kaum zu einer kleinen, dynamischen und begeisterten Minderheit gesundschrumpfen. Das war schon zu DDR-Zeiten ein frommer Mythos. Der kraftvolle Aufbruch der Kirche zu den Menschen kommt nicht dadurch, dass man lediglich ihre Gestalt verschlankt. Nötig ist vielmehr eine Neugestaltung nach den Anforderungen einer zunehmend säkularen Umgebung. Dies muss geschehen als Neuaufbruch aus dem Geist des Evangeliums. Wenn lediglich die kirchliche Arbeit auf einem immer niedrigeren Niveau festgeschrieben wird, führt das in die Resignation. Man darf nicht unterschätzen, welche lähmende Wirkung die erlebte Reduzierung kirchlicher Angebote für das Bewusstsein der Mitglieder hat. Abbau statt Aufbruch, das ist der verwaltete Untergang, die finanzierbare Sterbehilfe eines Kirchenmodells, das den Anforderungen der Zukunft nicht genügt. Es gibt zu einem Neuaufbruch keine Alternative, wenn wir unseren Auftrag weiter erfüllen wollen, Kirche für das Volk zu sein.

Ein hohes Gut der Landeskirchen

Die evangelische Kirche hat großartige Möglichkeiten, um die Herausforderungen mutig, fröhlich und erfolgreich (das biblische Wort heißt „Frucht“) anpacken zu können. Wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen und die knapper werdenden Mittel als Reden Gottes verstehen, wird Gott diese Kirche auch in Zukunft gebrauchen, um „das Evangelium unter die Leute zu bringen“. Die evangelischen Landeskirchen genießen – bei aller Skepsis gegenüber Institutionen und Christentum – einen grundsätzlichen Vertrauensvorschuss (auch im Osten) als Hüter von Glaube, Werten, Tradition und Kultur. Das ist ein hohes Gut, das unsere Arbeit für das Evangelium erleichtert und uns den Zugang zu vielen Institutionen wie Medien, Schulen, Behörden, Regierung ermöglicht – ein Gut, um das uns Freikirchen beneiden. Außerdem gelten wir in der Gesellschaft als Experten für Glaubens- und Lebensfragen und als wichtige Stimme für ethische Anliegen.

Ein kleines Lob der Ortsgemeinde

Wir haben in unseren Pfarreien Tausende von Menschen, zu denen wir Zugang haben, über die in der Taufe Gottes Verheißung proklamiert wurde, deren Namen und Adressen wir kennen, die uns irgendwie vertrauen und die sich an uns wenden in Freud und Leid. Das ist eine Chance, die wir nutzen müssen. Wir haben in den Landeskirchen ein riesiges Potenzial an meist gut ausgebildeten und motivierten Fachleuten und Führungskräften: Pfarrer, Musiker, Pädagogen, Verwaltungsexperten, Erzieher, Sozialarbeiter, Ökonomen.

Die neue Generation von Pfarrern ist frömmer

Während die Zahl der Theologiestudenten in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen ist, hat sich der Anteil derer, die mit einer missionarischen Berufung studieren, deutlich erhöht. Theologiestudierende sind frömmer geworden. Der Beruf des Pfarrers hat wegen seines sinkenden Sozialprestiges an Attraktivität eingebüßt. Wer jetzt bereit ist, Altgriechisch und Hebräisch zu pauken, hat meistens eine fromme Motivation. „Was wird aus unserer Kirche, wenn nur noch Evangelikale Theologie studieren?“, hat kürzlich ein Oberkirchenrat in einer Sitzung besorgt gefragt. Das ist sicherlich die enge Wahrnehmung einer Evangelikalenphobie, und Gott sei Dank sind nicht nur Evangelikale fromm. Auch liberalere Geister sehen, dass die Kirche der Zukunft eine missionarische sein muss. Eine neue Generation von Pfarrern, Oberkirchenräten, Kantoren wird den Weg bestimmen, um hoffentlich aus institutionellen Verkrustungen auszubrechen und eine innovative und attraktive Kirche zu gestalten, in der Menschen dem lebendigen Evangelium begegnen.

Alte Kirchengebäude sind heute für viele cool

Unsere schönen alten Kirchen in den besten Lagen sind oft eine Last, aber sie sind vor allem auch ein Segen und eine Ressource missionarischer Arbeit. Postmoderne – also heutige – Menschen finden alte Kirchen fast durchweg sehr cool. Sie sind hervorragende Orte, um zu feiern: Gott, das Evangelium, die Liebe, das Leben. Menschen kommen in die Kirchen, wenn sie Trost brauchen, Orientierung suchen, nach Glauben fragen, Stille brauchen. Neben den Kirchgebäuden gibt es eine Vielzahl von Gemeinderäumen, die ganz unterschiedliche Chancen bieten, um dem Auftrag der Kirche zu dienen.

Die Kirche sollte den Zehnten für die Mission geben

Die EKD nimmt dank der boomenden Wirtschaft über die Kirchensteuer so viel Geld ein wie noch nie. Spätestens 2030 wird es aber den großen Einbruch geben. Zurzeit haben wir noch viel Geld. Wird es genutzt, um als Boten des Evangeliums in die Zukunft aufzubrechen, oder benötigen wir sämtliche Finanzen, um die Pensionen unserer Kirchenbeamten zu bezahlen? Ich halte es für ein Gebot der Stunde, dass unsere Kirchen eine Art Missionszehnten einführen, zehn Prozent der Haushaltseinnahmen sollten in neue Projekte investiert werden. Eine Kirche, die „gegen den Trend wachsen will“, muss sich auch finanziell neu aufstellen.

Geistliche, theologische und intellektuelle Weite

Dass es Freikirchen gibt, ist ein Segen für unser Land und auch für die Landeskirchen. Unsere differenzierte Gesellschaft braucht auch andersartige Kirchenmodelle, damit unterschiedliche Menschen den Glauben entdecken können. Aber gerade im Gegenüber zu den Freikirchen schätze ich die Volkskirche, die mich in einer Gemeinschaft verortet, in der sehr unterschiedliche Frömmigkeitsrichtungen (Hochkirchler (also Liturgieliebhaber), Liberale, Lutheraner, Pietisten, Evangelikale, Charismatiker usw.) zusammengehören. Das hilft, spirituell und theologisch Weite zu bewahren und Engstirnigkeit zu vermeiden. Und das ist für viele Menschen attraktiv.

Das Kerngeschäft beleben

Institutionen, die sich in einer Krise befinden, müssen sich fragen: Was war der ursprüngliche Traum, die ansteckende Faszination, die treibende Idee, die zur Entstehung und zum Erfolg führte? Zu sehr haben wir unsere Ressourcen in alles Mögliche investiert – das reicht vom kirchlichen Genderzentrum bis zur Parteipolitik. Dabei haben wir oft das Kerngeschäft vernachlässigt. Eine Kirche der knappen Ressourcen muss ihre Mittel bündeln. Die eigentliche Herausforderung liegt in der Konzentration auf unsere Kernkompetenz, nämlich die Bedeutung des Glaubens für das Leben der Menschen überzeugend und einladend zu vermitteln. Ich bin überzeugt, dass in Zukunft missionarische Arbeitsformen und innovative Projekte in der evangelischen Kirche möglich sind, von denen wir heute nur träumen. Und auch die nötigen Finanzen werden durch die neue Sicht auf die Aufgaben der Kirche frei werden.

Neue Wege in der Verkündigung finden

Immer wieder wird bei kirchlichen Mitarbeitern die Klage laut, dass christliche Angebote auf wenig Interesse stoßen. Hinter diesen Aussagen stecken viele negative Erfahrungen. Dennoch: Der Bedarf nach spiritueller Erfahrung und Begleitung ist immens, und die Fragen nach Identität, Sinn, Wahrheit, Zukunft, Gotteserfahrung sind präsenter denn je. Und genau in diesem Bereich liegt die Kernkompetenz des christlichen Glaubens. Der Trendforscher Matthias Horx spricht sogar von einer Respiritualisierung als Megatrend unserer Tage. Gleichzeitig aber scheint dieser Trend zum großen Teil an den Kirchen vorüberzugehen. Oder wie der österreichische Journalist Günther Nenning lakonisch vermerkt: „Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen.“ Die allgemeine Interessenlosigkeit gegenüber christlichen Angeboten signalisiert ein ganz anderes Problem. Unsere zentralen Inhalte werden nicht verstanden. Das auffälligste Symptom dafür ist die von vielen diagnostizierte Krise der evangelischen Predigt. Was man von vielen Kanzeln zu hören bekommt, ist eine kuschelige Mixtur aus Betroffenheitsprosa und Sozialromantik, aber kaum „die Botschaft von der freien Gnade Gottes“. Christliche Verkündigung muss neue Wege finden, um alte Glaubensinhalte einladend und lebensrelevant in die Welt der Menschen zu sprechen.

Andere Formen der Mitgliedschaft

Auch die Vielfalt des Lebens in unserem Land spiegelt sich zu wenig in unseren Gemeinden wider. Eine aufbrechende Kirche wird bunter und mannigfaltiger. Wir werden das, was als evangelisch gilt, weiter stecken. Dass wir ein Einwanderungsland sind, muss sich auch in unserer Kirche niederschlagen. Man kann Christen, die aus nichteuropäischen Ländern kommen, unser landeskirchliches System mit Kircheneintritt und Kirchensteuer schwer vermitteln. Sie definieren ihre Zugehörigkeit darüber, dass sie in einer Ortsgemeinde Heimat finden. Es muss daher auch andere Formen der Mitgliedschaft geben. Ich sehe, dass es besonders in unseren städtischen Ballungsräumen Gemeinden geben wird mit völlig anderen Gottesdienst- und Gemeindeformen, weil die Menschen ihre Spiritualität und Kultur in unserer Kirche leben. Viele Flüchtlinge können eine „Frischzellenzufuhr“ für die Landeskirchen bedeuten, wenn wir sie nicht nur als Migranten empfangen, sondern als evangelische Geschwister. Wenn sie noch keine Christen sind, dann als Menschen, für die das Heilsangebot des Erlösers gilt und die wir zu Taufe und Christusnachfolge einladen.

Ein Aufbruch ist möglich

Wir haben einen Auftrag und eine göttliche Bevollmächtigung, neue Wege zu einer einladenden, innovativen und in einigen Bereichen wirklich wachsenden Kirche zu beschreiten. Auch wenn wir wahrscheinlich hier und da einen geordneten Rückzug aus Teilen des gesellschaftlichen Lebens antreten müssen, wird es Bereiche geben, in denen wir „gegen den Trend wachsen“, in denen neue Menschen für das Evangelium und die Kirche gewonnen werden und in denen Modellprojekte Impulse des Glaubens und der Hoffnung in das Land hineinstrahlen.

(Der Autor, Pfarrer Alexander Garth, gründete 1999 die Junge Kirche Berlin, eine Gemeinde der Evangelischen Kirche (EKBO) im Osten Berlins, und arbeitete als Bereichsleiter in der Berliner Stadtmission. Zurzeit ist er als Sprecher für ProChrist unterwegs und übernimmt danach eine neue Aufgabe in der evangelischen Kirche. – Ev. Nachrichtenagentur idea)