Der Thesenanschlag von Chicago

Vor 50 Jahren erregte Martin Luther King mit einer öffentlichen Aktion zugunsten der Schwarzen Aufsehen. – Martin Luther King und seine Leute hatten im Januar 1966 den ehrgeizigen Plan, die im Süden der USA bereits bewährte gewaltfreie Aktion in die Slums der Großstädte des Nordens zu tragen. Dort waren die Probleme der Schwarzen nicht eine kleinliche Rassentrennung im Bus und an der Imbissbude, sondern die Hoffnungslosigkeit von Familien und einer ganzen Generation Jugendlicher… unter wirtschaftlicher Benachteiligung im Getto.

Den Kindern wurde in primitiven Schulen verwertbare Bildung vorenthalten. Es fehlte an Ausbildungsplätzen und Jobs. Für bewusst dem Verfall preisgegebene Behausungen wurden höhere Mieten verlangt als für normale Wohnungen in Weißenvierteln. Die Preise in den Gettoläden waren höher als außerhalb. Die Slumbewohner besaßen kaum Autos und konnten nicht zu entfernteren Geschäften fahren. Wohneigentum zu erwerben, wurde Afroamerikanern vom Immobilienhandel vorenthalten, selbst wenn sie Geld besaßen. Von den Banken erhielten sie keine Kredite. In Weißenvierteln wurde der Zuzug Schwarzer nicht geduldet. Die Arbeitslosigkeit war verheerend. Es gab weder Parks noch Schwimmbäder.

„Es ist ein Unrecht, mit Ratten zu leben“

Im Januar 1966 hatte Martin Luther King mit seiner Familie im Schwarzengetto auf Chicagos West Side eine heruntergekommene Wohnung bezogen. „Man kann den Armen nur nahe sein, wenn man bei ihnen lebt“, erklärte er den Reportern, die ihm und seiner Frau Coretta die schmale, wacklige Treppe zu der nach Urin stinkenden Unterkunft nachkletterten. „Der langsame, erstickende Tod einer Art Konzentrationslagerlebens im Getto“, war Martin Luther Kings Terminus für die Slums.

Gemeinsam mit anderen besetzte er ein ganzes Mietshaus, welches sie selbst renovierten. Sie  nannten das „umgekehrter Streik“. In der Kirche sagte King nach erschütternden Selbstzeugnissen von Gettobewohnern: „In einem Slum zu leben, ist Raub. Ihr seid eurer Würde beraubt. Es ist ein Unrecht, mit Ratten zu leben“. Dabei hatte Chicago damals eines der höchsten Prokopfeinkommen der Welt und eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in den USA.

Ein Team aus dem Süden angereister und einheimischer Bürgerrechtler bereitete gewaltfreie Aktionen, Verhandlungen mit dem Establishment und Demonstrationen durch Weißenviertel vor. Bürgermeister Richard J. Daley versuchte mit Sanierungen im Slum die Proteste der Bürgerrechtler zu entkräften. Doch die städtische Armutsbekämpfung wie auch ein von Präsident Lyndon B. Johnson vorgestelltes Modellprogramm, das verfallende Städte in „Meisterstücke der Zivilisation“ verwandeln sollte, hatten eher kosmetischen Charakter.

Aktion am „Freiheitssonntag“

Die Verhandlungen der Bürgerrechtler mit Bürgermeister Daley verliefen zäh. Bei ihren Protestmärschen  durch Wohnviertel von Weißen stießen sie auf hasserfüllte Reaktionen. Die Kinder von Coretta und Martin quengelten in der stickigen Wohnung. Auf der verstopften und gefährlichen Straße gab es keine Spielmöglichkeit.

In dieser Situation kam King die Idee, die symbolhafte Aktion seines Namenspatrons Martin Luther, den Thesenanschlag zu Wittenberg im Jahr 1517, in Chicago nachzuahmen. Er wählte dafür den traditionellen „Freiheitssonntag“, den 10. Juli 1966: Im Football- und Fußballstadion „Soldiers Field“ hielt er vor 36.000 Zuhörern eine progammatische Rede. Dann führte er die Menge zum Rathaus. Unter Jubel heftete er 48 Thesen an die Metalltür.

Hatte Luther in seinen 95 Thesen den geschäftsmäßigen Ablasshandel der Kirche angeprangert, so prangerte King 1966 in Chicago vorrangig die Geschäftemacherei mit Unterprivilegierten im Schwarzengetto der Großstadt an. Seine Thesen richteten sich sowohl an Stadtverwaltung, Gewerkschaften, Wirtschaft und Banken, als auch an den Gouverneur und die Bundesregierung, gleichwohl jedoch auch an die Bevölkerung.

Bündel sozialer Forderungen

King mahnte Verbesserungen der Wohn- Bildungs- und Arbeitsverhältnisse an. Er forderte öffentlichen Wohnungsbau, Kindergärten, eine funktionierende Müllabfuhr, Straßenreinigung, öffentliche Toiletten und einen Gebäudekontrolldienst für die von Vermietern vernachlässigten Wohnungen im Getto. Er verlangte Ausbildungsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwarze und Latinos, nicht nur auf unterster Ebene, sowie einen Mindestlohn in Höhe von 2 Dollar. Zudem forderte er eine Beschwerdestelle für Polizeigewalt, polizeiliche Übergriffe und willkürliche Verhaftungen.

Gemeinnützige Organisationen sollten aus staatlichen Mitteln mitfinanziert werden. Weiter verlangte King die Durchsetzung des Wahlrechts auf Grundlage des Bürgerrechtsgesetzes von 1964. Die Menschen wurden zur Mitgliedschaft und finanziellen Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung sowie zur Teilnahme an den Kampagnen aufgefordert. Und King rief sie zum selektiven Einkauf bei Firmen auf, die Produkte von schwarzen Produzenten nicht in ihr Sortiment aufnahmen.

Als King am Folgetag Bürgermeister Daley seine Thesen persönlich übergeben wollte, weigerte sich dieser „mit vor Zorn hochrotem Gesicht“, diese entgegenzunehmen. Chicago hätte bereits ein „massives Slumbekämpfungsprogramm“. King versprach dem Bürgermeister Sit-ins, Camp-ins, Boykotts und Massendemonstrationen, wenn er nicht Grundlegendes unternähme, der in den Gettos „brodelnden Verzweiflung“ entgegenzutreten.

Hasserfüllter Mob

Der störrischen Reaktion Daleys folgte schon am nächsten Tag ein Aufruhr mit neun Verletzten und 24 Verhaftungen. Kings Aufruf zur Gewaltfreiheit verhallte bei einem Teil der Schwarzen ungehört. Es folgten weitere Gewalttätigkeiten und es bestand die Gefahr, dass das ganze Getto in Flammen aufgeht. Nach dem Tod eines 14jährigen Mädchens setzte Gouverneur Otto Kerner 4000 Mann der Nationalgarde ein. Die Stadt beschaffte zehn transportable Swimmingpools für das Schwarzengetto. Doch die Lage ließ sich nicht beruhigen: Während eines Marsches am 5. August wurde Martin Luther King ein Ziegelstein an den Kopf geworfen, obwohl ein weißer Sympathisant an seiner Seite demonstrierte. „Nicht einmal in Mississippi und Alabama erlebte ich den Mob so feindselig und hasserfüllt wie in Chicago“ erklärte King.

Dann gab der Bürgermeister nach. Am 26. August kam es zu einem „Gipfelabkommen“, in dem ein großer Teil der Forderungen aus Martin Luther Kings 48 Thesen von der Rathaustür aufgenommen wurde, wenn auch ohne genauen Zeitplan. Martin Luther King musste sich immer wieder vom Ort der Auseinandersetzung entfernen und pendelte per Flugzeug zwischen Nord und Süd.

Er hielt es nicht länger aus, zum Vietnamkrieg zu schweigen. Zur Generalversammlung der liberalen Religionsgemeinschaft Unitarian Universalist Association in Hollywood/Florida forderte er Abrüstung unter einer starken UN, Stopp der Bombardierung Nordvietnams und Verhandlungen. Präsident Lyndon B. Johnson strafte King sofort ab, indem er ihm während einer Bürgerrechtskonferenz im Weißen Haus nicht das Wort erteilte.

Verfechter der Gewaltfreiheit

An der Grenze von Tennessee nach Mississippi wurde auf einem einsamen Marsch der Bürgerrechtsaktivist James Meredith niedergeschossen. King flog sofort nach Memphis, um Meredith am Krankenbett zu besuchen. Dann beschloss er gemeinsam mit anderen Leitern der Bewegung einen „James Meredith Gedenkmarsch gegen die Angst“. Zum 27. Mal, ungefähr so oft wie Martin Luther King, war der schwarze Studentenführer Stokeley gerade ins Gefängnis geworfen worden. Bei seiner Entlassung rief er den Versammelten zu „Jetzt werden wir Black Power fordern!“

Der Begriff war schon in den 50er Jahren von dem Schriftsteller Richard Wright sowie dem Schauspieler und Sänger Paul Robeson verwendet worden. Jetzt aber wurde er zu Kings Erschrecken zum Kampfruf militanter Bürgerrechtler. Er ergriff zunächst im Süden einen Teil der Demonstranten, wurde aber auch im Norden laut und wollte nicht mehr verstummen. King erlebte eine unaufhaltsame Spaltung der Bewegung in diejenigen, die an Gewaltfreiheit und Zusammenarbeit mit sympathisierenden Weißen festhalten wollten und Schwarzen, die sich bewaffneten und Weiße nicht zu ihren Protestmärschen zuließen. Doch der Verfechter der Gewaltfreiheit erklärte: „Wenn alle Schwarzen Amerikas sich der Gewalt zuwenden, dann will ich gerne die einsame Stimme sein, die predigt, dass das Unrecht ist. Und wir müssen weiterhin, Schwarze und Weiße zusammen, ‚We Shall Overcome‘ singen“.

Was Kings „Reformation“ in Chicago betrifft, so musste er sich mit bescheidenen Ergebnissen begnügen: „Es ist der erste Schritt einer Reise von 1000 Meilen“, sagte er. Noch heute leben in Chicago West Side je nach Stadtviertel zwischen 16 bis 40 Prozent der Einwohner, rund 130.000 Menschen, unterhalb der Armutsgrenze.

Georg Meusel (evangelisch.de)

Georg Meusel ist ehemaliger DDR-Bürgerrechtler sowie Gründungsinitiator (1998) und Ehrenvorsitzender des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. Werdau

 

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