Wie geht es den Pfarrern?

Pfarrerinnen und Pfarrer gelten als Schlüsselpersonen für die Zukunft der Kirche. Doch die Arbeitsbedingungen sind schwerer geworden: Die Aufgaben wachsen, die Zahl der Pfarrpersonen nimmt ab. In drei bis vier Jahren steht ein großer Umbruch bevor. Dazu ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Verbands evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland, Andreas Kahnt… Mit ihm sprach Reporter Karsten Huhn.

(?): Herr Kahnt, wie geht es den Pfarrern?

Kahnt: Die Verhältnisse sind sehr unterschiedlich. Es kommt darauf an, ob sie Pfarrer in Württemberg oder in Anhalt, in der Stadt oder auf dem Land sind. Was alle Pfarrer gemeinsam haben: Sie sind durchweg motiviert und tun treu ihren Dienst – und sie leiden darunter, wenn ihnen hier und da Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Da gibt es viel Frust.

(?): An welche Knüppel denken Sie?

Kahnt: Viele Pfarrer leiden an den überzogenen Erwartungen, die an sie gestellt werden. Die Fülle an Aufgaben kann von vielen kaum noch bewältigt werden. Das führt zu Konflikten. Ein Ärgernis sind auch die ständigen Strukturveränderungen. Noch ehe eine Reform der Kirchenleitung umgesetzt ist, kommt schon die nächste. Pfarrer müssen die Veränderungen vor Ort umsetzen, und das belastet nicht selten.

Die Kirche muss nicht sparen!

(?): Die Kirche muss eben sparen!

Kahnt: Nein, das muss sie nicht! Das wird zwar immer wieder behauptet, aber es stimmt so nicht. Die Einnahmen sind in den letzten 20 Jahren um 20 Prozent gestiegen, selbst inflationsbereinigt beträgt das Wachstum noch acht Prozent.

(?): Die Kirchen nutzen diese Mehreinnahmen, um Rückstellungen für die Pensionen der Pfarrer zu bilden.

Kahnt: Das bewerten wir positiv. Denn die Pensionsversprechen kosten viel Geld und müssen eingehalten werden. Wir beobachten aber auch, dass die Kirchen sehr viel Geld für Dinge ausgeben, die nicht unbedingt bei den Gemeinden ankommen. Denn Personalvermehrung und Kostensteigerungen gibt es vor allem in der Verwaltung, und hier zunehmend in der mittleren Ebene.

Die Ortsgemeinden werden entmündigt

(?): In Deutschland arbeiten in den 20 Landeskirchen derzeit 14.000 Pfarrer im Gemeindedienst und 5.500 in sogenannten Funktionsdiensten. Ist das ein gesundes Verhältnis?

Kahnt: Zu den Funktionsdiensten gehören alle Pfarrstellen, die außerhalb der Ortsgemeinde angesiedelt sind, etwa Klinik-, Gefangenen- oder Altenheimseelsorge, Schulpfarrämter oder auch Referentenstellen in  Kirchenämtern. Gut ist das dann, wenn diese Funktionsstellen Dienste gewährleisten, die die Ortsgemeinde nicht vorhalten kann. Das entlastet den Gemeindepfarrdienst. Im Ideallfall arbeiten außerdem Kirchenämter den Gemeinden zu, zum Beispiel indem sie die Verwaltung mehrerer Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft organisieren. Problematisch finde ich jedoch, dass die Kirchenämter zunehmend Kompetenzen an sich ziehen, etwa indem sie über Stellenbesetzungen und Ausgaben der Ortsgemeinden entscheiden. Das entmündigt die Gemeinden. Es wandert derzeit viel Entscheidungsgewalt in die mittlere Leitungsebene – was es so bislang nicht überall gab. Ob das effektiv ist, muss sich erst noch weisen. Meine Vermutung ist: eher nicht.

(?): Warum nicht?

Kahnt: Ein Beispiel: Wenn ich früher als Gemeindepfarrer eine Information brauchte, ging ich in mein Kirchenbüro und habe sie dort bekommen. Heute muss ich dafür im Kirchenverwaltungsamt anrufen, meine Frage stellen und warte dann – manchmal ein, zwei oder drei Tage, manchmal auch länger. Ich bin auf die Mitarbeitenden im Kirchenamt und deren Arbeitszeiten angewiesen, da ich selbst keinen Aktenzugriff habe.

Die EKD-Reformen: eine „Anleitung zum Unglücklichsein“

(?): Das größte Reformprojekt in letzter Zeit war der 2006 begonnene EKD-Reformprozess „Kirche der Freiheit“. Sie bezeichnen das Papier als „Anleitung zum Unglücklichsein“. Warum?

Kahnt: Ein Ziel der Reformen war, ein „Wachsen gegen den Trend“ zu erreichen. Inzwischen gibt sogar der führende „Reformer“, der Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes, Thies Gundlach, zu, dass das ein Fehler war. Dieses Ziel konnte Pfarrerinnen und Pfarrer nur demotivieren. Indirekt wurde ihnen damit doch gesagt: Was ihr macht, ist nicht gut genug – ihr müsst besser werden! So als täten sie nichts und müssten sich jetzt endlich mal richtig anstrengen. Es ist überhaupt nicht betrachtet worden, was bereits geleistet wurde. Für viele war das eine Kränkung. Es hat viele in die innere Emigration getrieben. Das Reformpapier war demotivierend.

(?): Mit den Reformen wollte die EKD „Leuchtfeuer“ entzünden.

Kahnt: Für mich waren das zum Teil eher Irrlichter. Das Papier sah zum Beispiel vor, die Zahl der Ortsgemeinden mittelfristig zu halbieren. Dabei weisen die Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft in die entgegengesetzte Richtung! Die Kirche ist immer nur so gut, wie sie von den Menschen vor Ort erlebt wird. Und dabei kommt es auf die Pfarrerinnen und Pfarrer an. Das hätten die Reformer besser wissen können!

(?): Aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums des EKD-Reformprozesses  sollte in Berlin eine Tagung stattfinden, auf der Bilanz gezogen werden sollte. Sie wurde mangels Interesse wieder abgesagt.

Kahnt: Schade! Ich wäre gern hingegangen, aber ich hatte keine Einladung. Mich hätte interessiert, wie die Urheber des Reformpapiers ihr Werk heute beurteilen. Darüber würde ich gerne mit ihnen ins Gespräch kommen.

Nur der Pfarrer vor Ort weiß, wie es um die Liebe steht

(?): Wurden die Reformen heimlich zu Grabe getragen?

Kahnt: Nein, die Impulse, die damals gesetzt wurden, sind schon in die Köpfe gekommen. Alle Fusionen und Strukturveränderungen, die wir heute erleben, sind letztlich auch eine Folge des Papiers. Personalstunden werden ausgedünnt. Pfarrerinnen und Pfarrern werden immer mehr Aufgaben zugemutet. Dabei verlieren sie zwangsläufig die Nähe zu den Menschen. Wer Gemeindewachstum will, braucht Leute vor Ort. Die wissen im (?)lfall, wer gerade ein Kind bekommen hat, und machen dort einen Besuch, um die Taufe zu verabreden. Sie kennen auch viele Jungs und Mädchen aus dem Ort oder Stadtteil, weil sie sie konfirmiert haben. Und wenn man die jungen Leute ein paar Jahre später wiedertrifft, erkundigt man sich, wies denn mit der Liebe steht. Und fragt nach der Trauung! Aber wenn man diese Kontakte gar nicht mehr hat, weil andere Aufgaben überhandnehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Tauf- und Trauzahlen zurückgehen. Nähe ist keine Garantie, aber eine enorme Chance!

Die Kirche darf die Dörfer nicht vergessen

(?): Das größte Problem der Kirche ist die hohe Zahl der Austritte: 2015 verließen 210.000 evangelische Mitglieder ihre Kirche.

Kahnt: Meine Erfahrung ist: Wenn man mit ihnen in Kontakt bleibt, lassen sich viele zurückgewinnen. Aus Anlass einer Trauung, einer Taufe oder eines Jubiläums konnte ich manche für einen Wiedereintritt interessieren. Ich rate den Landeskirchen, ihre Arbeit nicht zu sehr auf die Zentren zu verlagern, sondern Pfarrdienst in der Fläche zu ermöglichen.

(?): Sie singen ein Hohelied auf den Landpfarrer.

Kahnt: Auf jeden Fall! Die meisten evangelischen Christen wohnen auf dem Land oder in Kleinstädten. Wenn die Kirche ihre „Leuchtfeuer“ nur noch in Großstädten entzündet, vernachlässigt sie sehr viele Menschen, die auf dem Land leben. Die Leute interessiert nicht, ob in der Kirche in der 20 Kilometer entfernten Kreisstadt etwas los ist, sondern ob in ihrer Dorfkirche noch Leben ist.

Großstadtpfarrer: Klingelt euch durch!

(?): Haben Sie auch einen Rat für Pfarrer in der Großstadt?

Kahnt: Sich durchklingeln! Von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung. Die Leute müssen wissen, dass ihr Pfarrer, ihre Pfarrerin sich für sie interessiert. Ich weiß natürlich, welcher Einwand sofort kommt: Dafür ist nicht genug Zeit. Dennoch: Entscheidend ist der direkte Kontakt.

(?): Im Durchschnitt betreut jeder Gemeindepfarrer 1.586 Mitglieder – das sind deutlich weniger als noch vor 40 Jahren.

Kahnt: Vorsicht! Diese Zahl trügt. Es gibt über 4.000 Pfarrerinnen und Pfarrer, die nur in Teilzeit arbeiten. Und es gibt Landeskirchen, die Gemeindepfarrstellen mit 3.000 und mehr Mitgliedern ausschreiben. Die, die vergleichsweise wenige Mitglieder betreuen, müssen dafür oft weite Wege zurücklegen. Dazu kommt: Viele haben nicht nur ihre Mitglieder zu betreuen, sondern sind auch für Kindergärten oder Altenheime zuständig. Und noch etwas: Die Zahlen berücksichtigen ja nur die evangelischen Mitglieder. Ich habe es aber auch mit Menschen zu tun, die kein Mitglied sind. Beispielsweise kann ein Verstorbener der letzte Evangelische in seiner Familie gewesen sein. Natürlich kümmere ich mich dann auch um die konfessionslosen Angehörigen. Als Volkskirche haben wir es immer mit allen Menschen zu tun.

Entlasten Ehrenamtliche den Pfarrer?

(?): Die EKD wirbt damit, dass sich eine Heerschar von einer Million Ehrenamtlichen engagiert. Das müsste Pfarrer doch entlasten.

Kahnt: Das kommt drauf an. Als Ehrenamtliche werden auch alle Chormitglieder gezählt – es ist wunderbar, dass es sie gibt, aber entlastet das den Pfarrerdienst? Ich freue mich über jeden Ehrenamtlichen, der die Kirche offen hält oder als Lektor mitarbeitet. Was wir aber darüber hinaus benötigen, sind Ehrenamtliche, die bereit sind, Vorsitzende im Gemeindekirchenrat oder im Bauausschuss zu werden und Verwaltungsarbeit abnehmen. In der Regel bleiben diese Tätigkeiten jedoch an Pfarrerinnen und Pfarrern hängen – obwohl sie nicht zu deren Kernkompetenzen gehören.

(?): Stattdessen kommt plötzlich ein Prädikant des Wegs, der vielleicht auch noch lebendiger predigt als der Pfarrer. Das wird dann nicht als Entlastung empfunden, sondern als Konkurrenz.

Kahnt: Diese vermeintliche Konkurrenz halte ich für einen Popanz. Im Einzelfall mag es das geben, aber nach meiner Erfahrung ist das kein verbreitetes Phänomen. Allerdings: Pfarrerinnen und Pfarrer haben ein aufwendiges Theologiestudium hinter sich und sollen von diesem Pfund Gebrauch machen. Ideal wäre dabei ein Miteinander von Pfarrern und Prädikanten. Das kann für beide Seiten bereichernd sein.

Jede Woche 64 Stunden

(?): Nach Berechnungen der Badischen Pfarrvertretung arbeiten Pfarrer durchschnittlich 64 Stunden in der Woche.

Kahnt: Ich kann mich gut an Zeiten im Gemeindedienst erinnern, in denen ich auch so viel gearbeitet habe – weil es einfach notwendig war. In Spitzenzeiten kann es solche Stundenzahlen geben, aber es darf nicht so sein, schon gar nicht dauerhaft. Das Problem ist nur: Jede Arbeit, die man unterlässt, wird jemanden enttäuschen. Und das wollen Pfarrerinnen und Pfarrer nicht. Wir sind nicht gut im Neinsagen.

In vier Jahren wird es sehr knapp

(?): Ab 2020 droht der evangelischen Kirche ein Pfarrermangel. Viele Pfarrer gehen dann in Pension, gleichzeitig gibt es nur noch wenige Theologiestudenten, die in den Pfarrdienst eintreten könnten.

Kahnt: Diese Zeit wird zu einem Umbruch. Wir werden eine große Knappheit erleben, und bisher habe ich keine Vision, wie das kirchliche Leben wie gewohnt aufrechterhalten werden soll. Ich rechne damit, dass dann viele kirchliche Angebote nicht mehr von Pfarrerinnen und Pfarrern durchgeführt werden, weil sie dafür schlicht keine Zeit haben werden. Das wird vor allem Gruppen und Kreise in den Gemeindehäusern treffen. Ich fürchte, dass auch Verkündigung und Seelsorge unter der Knappheit leiden werden.

(?): Pfarrermangel gab es schon zu Martin Luthers Zeiten. Damals barmte der Reformator: „In Kürze wird es an Pfarrern und Predigern so sehr mangeln, dass man die jetzigen aus der Erde wieder herauskratzen würde, wenn man sie haben könnte.“

Kahnt: Pfarrermangel hatten wir auch in den 1970er Jahren. Der Unterschied: Damals gab es noch zahlreiche Gemeindediakone, -schwestern, -helfer und -sekretäre. Sie erledigten manche Arbeit, die Pfarrerinnen und Pfarrer heute überwiegend selbst leisten müssen.

Das Einzige, was hilft

(?): Wie kommt die Kirche aus dieser Klemme?

Kahnt: Klar ist, dass das Kürzen und Weglassen zu Konflikten führen wird. Es wird Kummer und Frustrationen mit sich bringen. Das Einzige, was dann hilft, ist, miteinander zu reden.

(?): Das ist doch eine Plattitüde!

Kahnt: Nein, das ist mordsschwer. Es klappt an manchen Orten ausgezeichnet, oft aber auch nicht. Die Kirchenleitungen sollten nicht von oben anordnen und durchregieren, sondern mit den Mitarbeitenden und den Gemeinden reden. Klar ist für mich auch, dass die Verkündigung des Evangeliums Priorität haben muss – das ist unsere Pflichtaufgabe! Über die „Kür“ lässt sich streiten.

Warum sollte man heute Pfarrer werden?

(?): Viele Kinder aus Pfarrersfamilien wollen alles werden – nur nicht Pfarrer.

Kahnt: Das stimmt leider. Sie erleben ihre Eltern häufig als gehetzte Leute, die statt Glaubenszuversicht Stress ausstrahlen. Sie sehen, dass ihre Eltern im Grunde sieben Tage die Woche unterwegs und nur zwischen Tür und Angel ansprechbar sind. Sie sehen auch, dass die Eltern der meisten ihrer Schulkameraden mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Wir haben uns zu einer Freizeitgesellschaft entwickelt, in der der Pfarrberuf wie ein Dinosaurier erlebt wird.

(?): Was spricht dafür, noch Pfarrer zu werden, wenn man doch auch Ingenieur, Informatiker oder Arzt werden kann?

Kahnt: Wir haben eine wunderbare, einmalige Botschaft weiterzusagen. Das Schönste als Gemeindepfarrer war für mich immer die Freude, die daraus entsteht, mit anderen Menschen über den christlichen Glauben zu reden. Selten habe ich so intensive Gespräche erlebt wie bei der Vorbereitung zur Taufe von Erwachsenen.

(?): Vielen Dank für das Gespräch!

Andreas Kahnt (55) ist seit 2014 Vorsitzender des Verbands evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland. Der Verband vertritt etwa 21.000 Mitglieder in 21 regionalen Vereinen. Kahnt lebt in Westerstede (bei Oldenburg); er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. (Ev. Nachrichtenagentur idea)

 

Bild (Archiv): Lutherrose