Protestanten wie Katholiken setzen auf neue Volksnähe – Wachsende Zweifel am Papst-Ideal der „Minderheitenkirche“

Bonn/Hannover – Es war ein Fanal: „Die Kirche wird andere Formen annehmen. Sie wird weniger mit den Großgesellschaften identisch sein, mehr Minderheitenkirche sein, in kleinen lebendigen Kreisen von wirklich Überzeugten und Glaubenden und daraus Handelnden leben.“ Mit diesen Sätzen löste Kardinal Ratzinger, heute Benedikt XVI., 1996 eine große Debatte über die Kirche der Zukunft in Deutschland aus: Abschied von der Volkskirche, die durch Steuern und Konkordate gesichert und in Traditionen verankert ist, Konzentration auf die Gemeinschaft der Gläubigen, die das Evangelium unter den Heiden verkündigen. Doch wie sehr diese Vision… …die Debatten auch befruchtet hat – allmählich wird die These vom Auslaufmodell Mehrheitskirche selbst zum Auslaufmodell. Das gilt ohnehin für die evangelische Kirche, der eine gewisse Porosität gegenüber dem Weltlichen seit je wichtig ist. Zwar ließen sich die Protestanten nicht zuletzt von Ratzinger bereitwillig sagen, dass die christliche Botschaft wieder in den Vordergrund treten müsse, doch in dieser biblischen Neubesinnung begreift man nun die alten volkskirchlichen Strukturen wie Kirchenchöre, Schulen und Kindergärten als Orte, an denen die Kirche weithin sichtbar wird und die breite Gesellschaft prägt (siehe Interview). Und in Ostdeutschland, wo man unter der SED nur als Minderheitenkirche überleben konnte, beginnt man sich den Nichtgetauften zu öffnen.

Auch unter Katholiken wachsen zumindest Zweifel, dass in der Minderheit die Zukunft liegt. Zwar siecht die alte Volkskirche katholischer Prägung dahin. Sie ist, wie die Sinus-Studie von 2006 gezeigt hat, in den meisten sozialen Milieus nicht mehr beheimatet; ihr primäres Problem ist weniger das weniger werdende Geld als die abnehmende Bindungskraft. Doch an ihrem Sterbebett mischen sich Gefühle der Trauer mit leisen Hoffnungen auf Auferstehung in anderer Gestalt: als Kirche im Volk und, geht es nach den reformorientierten Bischöfen, für das Volk.

Kardinal Karl Lehmann, bis zum Februar 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, hält nichts davon, der Volkskirche die Totenglocke zu läuten oder ihr die „Freiwilligenkirche“ entgegenzusetzen. Denn ein Minimum an Freiheit und Entscheidung sei stets auch in homogen katholischen Räumen notwendig gewesen. Die Kirche der Zukunft werde missionarisch, diakonisch und – recht verstanden – politisch sein: „Die Kirche, die nicht identisch ist mit einer Sekte, kümmert sich um das Wohl und Heil der Menschen – nicht bloß um die Mitglieder der Kirche, sondern um die Menschen in allen Schichten. Sie kann auch nicht schweigen bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse in der Gesellschaft. In dem Sinne kann auch eine Minderheit das ‚Volk‘ vertreten und für es die Stimme erheben.“

„Kirche im Volk“ bedeutet Offenheit für andere. „Am Menschen orientiert, ohne das Heilige zu vernachlässigen“, die Sorge um Leib und Seele als zwei Seiten einer Medaille begreifen – so hat der jetzt in den Stiftungsrat der Katholischen Universität Eichstätt berufene Unternehmensberater Thomas von Mitschke-Collande die neue kirchliche Perspektive beschrieben. Ähnlich argumentiert Lehmanns Nachfolger an der Episkopatsspitze, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, der heute 70 Jahre alt wird: „Ein Rückzug in die Intimität einer kleinen Herde würde uns in eine Sackgasse führen.“ Das einzige Beständige an der Kirche sei der Wandel. Das impliziert differenzierte Seelsorge, ein Zugehen auf die „Randständigen“ in der Kirche und auf die Abseitsstehenden.

„Eine Konzentration auf die Frommen wäre falsch“, warnt der Erfurter Bischof Joachim Wanke, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz. „Wir sind nicht nur für die 150-Prozentigen da.“ Wankes Weihbischof Reinhard Hauke, der seit Jahren Nichtgetaufte zu gottesdienstlichen Feiern einlädt, rät Klerikern wie Laien: „Haben Sie keine Angst vor den Heiden! Sie sind ein großes Geschenk an uns.“

Doch die Statistiken und Prognosen wirken ernüchternd: Bis 2025 ist mit einem Rückgang der Katholikenzahl in Deutschland von jetzt 26 Millionen auf 21 bis 23 Millionen zu rechnen, bis 2050 dürfte es infolge der demografischen Entwicklung nur noch 16 Millionen geben. Für die evangelische Kirche gilt Ähnliches. Während diese aber ein neues Interesse am Pfarrberuf registriert, dürfte sich in der katholischen Kirche die Zahl der Priester in 20 Jahren auf rund 6000 halbiert haben. An ihr Ende kommt im katholischen Bereich schon jetzt die herkömmliche „Betreuungskirche“. Der „Rückzug aus der Fläche“ und die Bildung immer größerer Pfarrverbände führen zum Verlust kirchlicher Bindekraft und Identität.

Kirche wird jetzt gern als soziales Netzwerk beschrieben, das, so Erzbischof Zollitsch, jede Fixierung auf eine einheitliche territoriale Struktur sprenge. Kirche lebe aber zugleich davon, dass sie „verortet ist“, man sie „im Dorf lässt“. Doch Präsenz im Dorf bei gleichzeitigem Abschied von der guten alten Gemeinde wird nur möglich sein, wenn es genügend charismatische Laien gibt, die in priesterlosen Orten „Kirche“ glaubwürdig und kompetent repräsentieren – und wenn die Bischöfe diese Menschen mit der nötigen Autorität ausstatten.

So wächst mit der Erosion der Strukturen der Reformdruck. Die Frage ist nur: Zeigt jedes der 27 Bistümer für sich allein, wie es sich Kirche im Volk vorstellt, oder kommt es doch noch zu einer bundesweiten Reformdebatte? Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat einen Vorstoß in die Richtung gewagt. Es ist – vorerst – bei den Bischöfen abgeblitzt.

Hingegen hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) den Mut, durch das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 eine breite Reformdebatte anzustoßen, in deren Verlauf manche Forderung nach zentralisierender Bündelung der Kräfte abgeschwächt und die volkskirchlichen Formen ortsgemeindlicher Zuwendung neu entdeckt wurden. So wirbt die Kirche mit Erfolg bei jungen Eltern für die Taufe, wobei sich die Attraktivität des Protestantismus darin zeigt, dass die Kinder aus gemischtkonfessionellen Ehen mehrheitlich evangelisch getauft werden.

Zugleich hat die EKD jüngst in Denkschriften die evangelischen Schulen als Modelle für den deutschen Bildungsaufbruch herausgestellt und lebhaftes Interesse am wirtschaftlichen Handeln der Mittelschicht bezeugt. Zudem will man mit der „Luther-Dekade“ bis zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 die Reformation als einen entscheidenden Wendepunkt der deutschen Geschichte hervorheben, der theologisch wie politisch bis heute das Selbstverständnis der Deutschen prägt. Wer solcherart hofft, dass sich in der Kirche bündeln lässt, was das Volk umtreibt, hat sich vom Gedanken der Volkskirche keineswegs verabschiedet.

Q: welt.de (09.08.2008)