Es ist eigentlich immer dasselbe Ritual. Wenn etwas Entsetzliches passiert, stillen die Medien zunächst den Informationshunger der Zuschauer und Leser. Anschließend kritisieren die Medien wiederum die Berichterstattung über eben jenes Ereignis. Am Fall des Amoklaufs von Winnenden lässt sich erkennen, wie gut die Selbstkritik der Medien in Deutschland im Grunde funktioniert. Dass man von der auflagenstärksten Tageszeitung, der „Bild“, im Falle eines Amoklaufs eines 17-jährigen Schülers keine nüchterne Zusammenfassung der Ereignisse sowie Hintergrundberichte ohne Blutrausch… …, Sensationslust und „Witwenschütteln“ (rücksichtsloses Ausfragen Hinterbliebener von Unglücksopfern) erwarten kann, dürfte bekannt sein. Das Blatt mit den kurzen Sätzen, den großen Buchstaben und den vielen Ausrufezeichen lebt davon, Themen boulevardesk zu behandeln.
Die Internetseite der „Bild“ zelebriert den Amoklauf derzeit wie einen Ego-Shooter – denn der Zusammenhang zwischen der Tat des Jungen am 11. März und Computerspielen wird vielerorts hergestellt. Fotos vom Tatort, Porträts der Getöteten, Interviews mit Überlebenden und immer wieder der vollständige Name des Täters finden sich auf Bild.de. Maximierung des Gruselfaktors bei Minimierung des Persönlichkeitsschutzes mit dem Nebenprodukt Information ist für „Bild“ nichts Ungewöhnliches.
Amoklauf als allgemeines Medien-Highlight
Doch freilich hat nicht nur der Boulevard dem Schülermord eine große Aufmerksamkeit geschenkt. „Der Amoklauf ist zu einem Medien-Highlight geworden“ schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. „Dabei reicht es nicht, nüchtern und sachlich die Fakten wiederzugeben, jedes noch so kleine vermeintliche Detail wird bestmöglich vermarktet, jedes Gerücht dankbar aufgegriffen.“ Das Magazin „Der Spiegel“ brachte Tim K. jüngst in Großaufnahme auf das Titelbild.
Medienkritiker weisen auf das Maß hin, in dem die kleine baden-württembergische Stadt von Reportern durchleuchtet wird. „Die Albertville-Realschule in Winnenden ist seit der Tat belagert. Ein Heer von Kameras umgibt den Schulkomplex, unzählige Reporter sind unterwegs und haben selbst ihre Anreise als Nachricht verkauft. (…) Jedes Kind, jeder Jugendliche, jeder Erwachsene, der irgendetwas über den Amoklauf wissen könnte, wird ausgefragt. ‚Kannten Sie den Täter?‘, ‚Kannten Sie Opfer?‘, heißt es in der FAZ.
Selbstverständlich wollen die Menschen bei einem großen Ereignis wissen, was genau passiert ist. Und das umso mehr, je näher sie am Ort des Geschehens leben. Was aber, wenn Medien meinen, die Sensationslust vieler Menschen bedienen zu müssen, anstatt sich auf die Berichterstattung zu beschränken. Und vor allem: Wo liegt die Grenze?
Sensationslust oder angeborene Neugier?
Die Reporter der Sendung „ARD-Brennpunkt“ haben am Tag nach der Tat in Winnenden Mitschüler interviewt, Jugendliche aus dem Nachbardorf und sogar den Pfarrer, der den Täter getauft und konfirmiert hatte. Der Nachrichtengehalt ist zwar gering, alle sagen, dass Tim K. ein unauffälliger Junge gewesen sei, dem sie solch eine Tat „nie zugetraut“ hätten. Und doch will der Zuschauer auch darüber informiert werden, will wissen, wie es um die Kleinstadt nun steht. Verabscheuungswürdige Sensationslust oder natürliche Neugier?
Immer wieder beäugen sich die Medienschaffenden gegenseitig und schlagen Alarm, wenn sie bei anderen Verstöße gegen Anstand und Ethik in der Berichterstattung zu erkennen glauben. Einer der lautesten Kritiker der Medien in Bezug auf das Winnenden-Attentat ist derzeit vielleicht der Chefredakteur des Fachmagazins „Werben und Verkaufen“. Jochen Kalka wohnt selbst in Winnenden und berichtet vom Medienaufgebot in seiner Heimatstadt. „Mehr und mehr Fernsehteams belagerten die Stadt, viele kamen direkt aus Köln, wo sie das Schlimmste des Einsturzdramas bereits im Kasten hatten. Schön, dass Winnenden so nahtlos überging“, schreibt er zynisch. Mehr als 40 Fernsehteams zählte er, „mit ihren Übertragungswagen im vom Regen geschwängerten Dreck“.
Kalka will einerseits die Perversität der Reporter angesichts der Tragödie schildern, verfällt dabei jedoch selbst in einen Stil, der die Betroffenheit seiner Mitbürger möglichst emotional einfangen will, und der mit bloßer Information nichts mehr zu tun hat. „Die Stadt ist wie betäubt am Morgen. Donnerstag ist Markttag in Winnenden. Gewöhnlich herrscht reges, fröhliches Treiben zwischen den Fachwerkhäusern der kleinen Stadt. (…) Heute ist der Markt leer. Nur jeder zweite Stand ist da, fast kein Mensch kauft etwas. Alle Gesichter sind wie erstarrt. Kamerateams versuchen, diese leeren Gesichter einzufangen. Diese Stille. Diese Fassungslosigkeit. (…) Der Krimi von gestern ist Stadtschweigen. Die Menschen können mit der Situation hier kaum umgehen. Sagt man zur Bäckersfrau oder zur Apothekerin auch nur ein ‚Schlimm, gell?‘, dann brechen alle in Tränen aus.“
Anschließend geht Kalka auf der Webseite der „W&V“ die Versuche seiner Kollegen, den Amoklauf ihrerseits zu würdigen, scharf an: „Entsprechend ziehen ‚Kommentarwichsmaschinen‘ (Max Goldt) durch Talk-Shows, von Maybritt Illner (‚Was macht Jugendliche zu Mördern‘) über Günther Jauch (‚Er war ein ganz normaler Junge‘) bis hin zu Frank Plasberg (‚Schule der Angst – was macht Jugendliche zu Amokläufern?‘).“ Soll das Fernsehen also einen Amoklauf wie den in Winnenden gar nicht mehr thematisieren? Kalka ist sogar der Meinung, seine Kollegen irrten grundsätzlich im Fall Winnenden: „Medien sprechen von ‚Amoklauf‘. Völlig unreflektiert. Das, was in Winnenden passiert ist, hat mit einem Amoklauf wenig zu tun. Bei einem Amoklauf dreht jemand durch, schießt unkontrolliert wie wild um sich.“
Kalka zeichnet einerseits ein gruseliges Bild vom Täter Tim K, der „sich einen schwarzen Anzug der KSK, der Spezialeinsatztruppe der Bundeswehr angezogen“ hat, „mit schusssicherer Weste, einen sogenannten SK4-Schutz“ und „gezielt in die Köpfe geschossen“ hat, um gleichzeitig „den Medien“ Sensationslust vorzuwerfen. „Es ist 11 Uhr in Winnenden, Schulschluss. Vor dem Schulzentrum an der kleinen Straße, der Albertviller Straße, herrscht Verkehrschaos. Das Flehen der Kinder, dieses ‚Hol mich bitte ab‘, summt noch im Ohr. Die Eltern umarmen ihre Kleinen, als hätten sie sie ewig nicht gesehen. Und wieder fließen Tränen.“ Nach seinem eigenen Bericht von den vielen Tränen fügt er hinzu: „Tränen, die die vielen Kamerateams abermals einfangen.“
Das Internet – Quelle von Amokläufern?
Vor allem ein Medium wird dieser Tage immer wieder kritisch beäugt, weil es eventuell etwas mit dem Amoklauf des 17-Jährigen zu tun hat. Das Internet ist allein dadurch verdächtig, dass jugendliche Amokläufer sich darin offenbar vor ihrer Tat betätigt haben. Aber welcher Jugendliche tut dies heute nicht? Eher ein Jugendlicher, der nicht chattet, am Computer spielt, StudiVZ, Facebook oder YouTube benutzt, müsste im Nachhinein seltsam erscheinen.
Die ARD-Journalisten vom „Brennpunkt“ stellten fest: „Die Internetcommunity bei YouTube, Twitter oder Flickr baut sich ihre eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat.“ Moderator Fritz Frey sagte, das Netz sei „nicht nur eine Plattform für potenzielle Täter“, sondern dort sei auch ein „virtueller Wutausbruch“ zu beobachten: „Die, die sich dort ihr ganz eigenes Bild vom gestrigen Amoklauf machen, können mit der Debatte um Schuld und Verantwortung wenig anfangen.“
Doch das Internet ist nun einmal zu einem Massenmedium im wahrsten Sinne des Wortes geworden, in dem sich praktisch ein Großteil der Kommunikation und Lebenszeit heutiger Jugendlicher abspielt. Was vielleicht früher über das Telefon beredet wurde, auch das „Thema des Tages“, findet nun auch in „Chatrooms“ statt. Internetuser verarbeiten das aktuelle Zeitgeschehen in Form von Videos, Blogeinträgen und Fotomontagen. Und die Informationen, die dort fließen, unterscheiden sich kaum von denen klassischer Medien. Das „Medium“ (was übersetzt „Vermittler“ heißt) als Ursache für schlimme Taten verantwortlich zu machen, ist kurzsichtig. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier schrieb in seinem Weblog: „Die Medien schaffen es, das sogenannte Mitmachnetz dafür verantwortlich zu machen, dass auf YouTube ein Video von den letzten Minuten des Amokläufers zu sehen ist, und dabei auszublenden, dass dieses Video von RTL exklusiv gekauft und verbreitet wurde.“
Thomas Schmid, Chefredakteur der „Welt“ und „Welt am Sonntag“, vertrat in einem Kommentar in der aktuellen „WamS“ die Ansicht, der Täter habe sich mittels der neuen Medien „unsterblich“ machen wollen: „Tim K. wusste wohl, dass er schon Stunden nach seiner Tat auf immer in die Hall of Fame des Verbrechens eingehen würde. (…) Das war nicht immer so. Wer vor 50 Jahren zu einer solchen Tat schritt, wusste vielleicht, dass seine Tat irgendwie in die Annalen eingehen wird. Aber er wurde nicht augenblicklich zum black hero. Heute wird er das, weil ihm das die mediale Welt schon vor seiner Tat versprochen hat.“ Möglich sei dies durch die Demokratisierung der Medien, sprich: durch das Internet. „In vielen digitalen Galerien wird die Tat von Tim K. aufbewahrt, wird die Erinnerung an ihn gepflegt werden. Seine Motive mögen die gleichen sein wie die eines Attentäters von 1907. Neu ist, dass man heute mit Taten wie diesen binnen Stunden den Laufsteg der Unsterblichkeit betreten (und sich von der Mühsal des Alltags verabschieden) kann.“
Twitter: Lügen-Maschine oder Medium wie alle anderen?
Der „W&V“-Chefredakteur Kalka macht zudem auf eine neue Informationsquelle aufmerksam, die besonders wieder im Fall Winnenden vielerorts Erwähnung fand: Twitter. Dabei handelt es sich um 140 Zeichen lange Kurznachrichten, die von jedem an jeden über das Internet versendet werden können. Die betroffenen Schüler in Winnenden selbst hätten nicht getwittert, stellt Kalka fest. „Wer twitterte, waren die Medien selbst.“ Er fügt hinzu: „Und sie verbreiteten Falschmeldungen um die Wette – immerhin in Echtzeit. Bis zum Abend lief das Rennen der Twitterlügen. (…) Auch bei der Anzahl der Toten lag man immer vor der Wahrheit.“
Wenn heutzutage etwas Sensationelles in der Welt passiert, sehen viele mittlerweile zuerst bei Twitter nach. Denn da Millionen User weltweit „twittern“, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jemand direkt vor Ort ist und Informationen verbreiten kann, die selbst Nachrichtenagenturen noch nicht haben. So zuletzt etwa geschehen beim Attentat in Mumbai, einer Stadt mit einer hohen Dichte an Mobilfunkgeräten. Und so „twittern“ die User im Ungewissen herum und versuchen, Licht ins Dunkel der Nachrichtenlage zu bringen – wie jeder andere auch.
„Sender von Schnipseln, die es kaum wert sind, Nachricht genannt zu werden, wie auch als Empfänger von mutmaßlichen Augenzeugenmitteilungen“, spöttelte jüngst die „Süddeutsche Zeitung“ anlässlich des deutschen Amoklaufs. Dabei will Twitter kein Nachrichtenticker sein, sondern ein Medium, das Kurznachrichten zwischen Menschen ermöglicht.
Das Magazin „Focus“ richtete eigens für den Amoklauf von Winnenden einen Twitter-Account namens „Focuslive“ ein, später sogar den Zugang „Amoklauf“. „Wie pervers ist das denn?“, reagierte der Twitterer der Konkurrenz „Netzeitung“. Und später: „Schämt Euch!!!“ Den Account „Amoklauf“ löschte „Focus“ später wieder. Dabei hatten die „Focus“-Twitterer gleich zu Beginn selbst gefragt: „Ist es verwerflich über Amokläufe zu twittern?“ Viele meinten: ja. Nachrichtenhungrige indes waren dankbar für die aktuellen, wenn auch unvollständigen Kurz-News.
In dem Blog „Carta“ schreibt der Medienwissenschaftler Robin Meyer-Lucht: „Politik und Journalisten sind augenscheinlich mit allen Kräften bemüht, die tiefe Verunsicherung, die von einem so schrecklichen Verbrechen wie dem Amoklauf von Winnenden ausgeht, durch größtmögliche Bestätigung des eigenen Vorverständnisses in den Griff zu bekommen.“ Die „neuen Medien“ sind in der Tat neu. Und ein richtiger Umgang damit will sich noch erst einfinden. Der Mensch indes mit seiner Gefahr, eigene Sensationslust über Informationsbeschaffung zu stellen, wird sich wohl kaum ändern. Die FAZ vermutet: „In der kommenden Woche wird Winnenden allmählich aus den Medien und aus dem öffentlichen Interesse verschwinden, und die Betroffenen werden dann zumindest weitestgehend in Ruhe trauern können. Und wir werden uns nach etwas Neuem umschauen müssen, das unseren Voyeurismus befriedigt.“
Welche Alternative gibt es, um die Gefahr der „falschen“ Berichterstattung zu umgehen? „W&V“-Chefredakteur Kalka kommt angesichts der empörend vielen Reporter in seinem Ort jedenfalls zu diesem Schluss: „Vermutlich wäre es am besten, Medien würden überhaupt nicht über einen Massenmord an Schulen berichten.“
Q: cma (03/ 2009)