Spärliches Wissen über die eigene Religion

Immer mehr jungen Menschen fehlt das Grundwissen über ihre Religion. Warum werden bestimmte christliche Feste gefeiert? Wie lautet das Glaubensbekenntnis? Es herrscht eine Sprachlosigkeit zwischen den Generationen in Bezug auf das Christentum. Wesentliche Informationen über die Weltreligion fehlen, ist der Religionswissenschaftler Peter Antes (69), überzeugt. Ein Gespräch über Religion, die rund zehn Gebote und den Sarg an der Krippe…

An Weihnachten feiern Christen die Geburt Jesu, an Ostern seine Auferstehung. Mehr wissen viele junge Menschen heute über das Christentum nicht mehr. Ist das denn so schlimm?

Peter Antes: Wenn man bei einem Wegekreuz vorbeikommt und nicht mehr weiß, wer dort hängt, ob Spartacus oder wer, dann ist im Grunde genommen die Kontinuität unserer Kulturtradition nicht mehr gewahrt. Bei einem solchen Kenntnisstand kann ich große Teile, die mir der Künstler mitteilen möchte, nicht mehr verstehen. Die Folge davon ist der Kulturabbruch. In Frankreich spricht man bereits von einer „exculturation“ und meint damit, dass wir in einer Gesellschaft leben, die keinen Zugang mehr zur eigenen Vergangenheit hat. Ich erinnere mich an eine junge Besucherin, die in der berühmten Gemäldegalerie Uffizien in Florenz, vor einer Krippenszene stand und die Krippe, in der das Jesuskind lag, als „offenen Sarg“ missinterpretierte.

Das hört sich dramatisch an.

Antes: Lassen Sie mich noch ein Beispiel geben. In Erfurt gibt es seit 2007 ein Projekt in der Weihnachtszeit. Es werden Fremdenführer ausgebildet, die den Besuchern des Weihnachtsmarktes erklären, welche Figuren in der dort aufgestellten Krippe zu sehen sind. Das muss man sich mal vorstellen! Fremdenführer für Krippen! Diese Episode zeigt: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass die heilige Familie als solche erkannt wird. Es geht um immer Elementares. Gleiches gilt für die Kirchenarchitektur: Je nachdem, ob wir eine romanische, gotische oder barocke Kirche besuchen, ist der jeweilige Baustil in einer Theologie begründet, die hier zu Stein geworden ist. Es ist daher wichtig, diese entziffern zu können. Das gleiche gilt, wenn ich Goethes Faust lese und nicht weiß, dass hier als Vorbild das Buch Hiob zugrunde gelegt ist.

Sollte ein gutes Kunstwerk nicht immer aus sich selbst heraus verständlich sein?

Antes: Bilder vom Leiden Christi oder der Auferstehung erklären sich nicht von selbst, Weihnachtskrippen auch nicht, wie das Beispiel Erfurt zeigt.

Wie lange leidet unsere Gesellschaft bereits an diesem Phänomen des Nichtwissens?

Antes: Das ist schwer zu sagen. 1976 stellte Tilmann Moser in seiner „Gottesvergiftung“ fest, dass seine Studenten nicht mehr über Grundlagen des Christentums Bescheid wüssten. Als Massenphänomen ist der religiöse Analphabetismus seit den 1990er Jahren wahrzunehmen. In den Reihen über die Weltreligionen gibt es erst seit jener Zeit auch Bände über das Christentum. Das Wissen über die eigene Weltreligion wurde vorher einfach vorausgesetzt. Für mich ist entscheidend, dass die religiöse kulturelle Sozialisation fortgeführt wird.

„Prüfen, ob da etwas dabei ist, das mir zusagt.“

Nehmen wir an, eines dieser Opfer der „exculturation“ möchte sich mit den Grundlagen des Christentums auseinandersetzten. Wo würden Sie empfehlen, zu beginnen?

Antes: Vielleicht würde ich ihm exemplarisch das Leben eines engagierten Christen vorstellen. Menschen wie den US-amerikanischen Theologen und Bürgerrechtler Martin Luther King. Durch den Zugang über einen „Vorbild-Christen“ könnten Sie die Motivation von Christen kennenlernen und Antwort auf die Frage finden: Was bewegt Christen, sich derart für andere einzusetzen.

Das Christentum ist mit mehr als 2,1 Milliarden Gläubigen die größte Glaubensgemeinschaft der Welt. Aber trotzdem kommen viele Menschen ganz gut ohne fundiertes Wissen über das Christentum aus. Oder etwa nicht?

Antes: Ja. Sie kommen gut ohne aus. In unseren Gegenden zumindest. Deutschland, Frankreich, Tschechien sind diejenigen christlich geprägten Länder mit der größten „exculturation“. Das Wissen um die Inhalte des Christentums, seiner Lehre und seiner Geschichte geht dramatisch zurück.

Und was schlagen Sie vor, lässt sich dagegen tun?

Antes: Die Christen müssen lernen, auskunftsfähig zu werden. Es gibt in Deutschland eine natürliche Scham, über Religion zu reden. Das Tabuthema Sex wurde in den 60er Jahren auch nicht dadurch enttabuisiert, dass man mit den Eltern über Sex redete, sondern mit Hilfe von Distanzierungsfaktoren: Bücher, Artikel, Filme. Dies gilt auch für das Christentum. Im Augenblick erfüllen die beliebten Sachbuchreihen über die Weltreligionen diese Rolle. Nach dem Motto: „Prüfet alles, und was gut ist, behaltet.“ So entdecken viele Menschen für sich immer mehr eine „Patchwork-Religion“.

Warum sollte sich ein Mensch des 21. Jahrhunderts mit der Geschichte des Christentums auseinandersetzen?

Antes: Um die zu verstehen, die im Sinne der Nächstenliebe engagiert in unserer Gesellschaft auftreten. Ansonsten erscheint deren Denken und Verhalten bizarr und verschroben. Außerdem ist es gut, sich mit dem theologischen Angebot, dem Heilsangebot der christlichen Kirchen auseinanderzusetzen, und zu prüfen, ob da etwas dabei ist, das mir zusagt.

In welchen Bereichen sind die Wissenslücken am gravierendsten?

Antes: Das beginnt schon bei fundamentalen Aussagen. Bei den zehn Geboten wissen viele nicht mehr, ob es nicht doch auch zwölf sein könnten. Sicher können viele nicht die zehn Gebote im Detail aufzählen, aber das halte ich persönlich für nicht so dramatisch, als wenn jemand gar nicht den Inhalt der Gebote benennen kann. Sie sind für das Handeln von Christen als Orientierungsmaßstab lebensnotwendig.

„Wir leben in einer total in sich geschlossenen säkularen Welt.“

Und was ist mit dem christlichem Urgebet, dem Vaterunser?

Antes: Zum einen können nicht mehr alle den Text auswendig. Zum anderen besteht die Gefahr, wenn man ihn kennt, dass man ihn missversteht, weil die Rede vom Vater schnell dazu führt, Gott als Vater mit dem eigenen Vater gleichzusetzen. Deshalb werden einige ihn für einen Tyrannen halten, andere für einen Schwächling, einige ihn fürchten, andere ihn hochschätzen. Somit bedarf die Rede vom Vater für Gott einer Interpretation, um individuelle emotionale Deutungen zurechtzurücken.

Und wie sieht es mit der Trinität aus? Das Gottesbild im Christentum zeigt sich schließlich in der Dreieinigkeit. Wie kann dieses sehr abstrakte Verständnis des Christentums jungen Menschen vermittelt werden?

Antes: Die Lehre von der Trinität besagt nicht, dreimal eins sei eins, sondern sie beschreibt, wie Menschen den einen Gott erkennen können, als Schöpfer, in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist.

Was wissen die Menschen heutzutage überhaupt noch über ihre Religion?

Antes: Sie wissen vor allem sehr viel Falsches. Viele sind überrascht, dass das Christentum keine europäische Religion ist, sondern ein „Import aus dem Orient“. Ernst Benz schrieb einmal: Europa ist der dynamischste Kontinent, aber der religiös unproduktivste. Religiös hat Europa ja nur vom Import gelebt. Das gilt für das Judentum, Christentum, den Manichäismus, den Islam und in neuerer Zeit auch für den Hinduismus und den Buddhismus.

Was Sie da zeichnen, ist eine sehr düstere Perspektive. Gibt es denn nicht doch kleine christliche Wissens-Mosaike, die bei den Menschen gut abrufbar ist?

Antes: Leider wirklich relativ wenig. Je weniger die Menschen religiös sozialisiert sind, umso weniger können sie sich etwas unter einem höheren Wesen vorstellen. Wir leben in einer total in sich geschlossenen säkularen Welt.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Was bedeutet Christsein für Sie?

Antes: Christsein bedeutet für mich ein Leben zu führen, das nicht in der Beliebigkeit endet, sondern in einem unbedingten „Ja“ zum Menschen und von dem Geist der Mit-Menschlichkeit Gottes getragen ist. Ich sehe da immer das Kreuz als Modell. Ich glaube, dass ich die Horizontale nicht ohne die Vertikale absichern kann.

10.10.2012 | von Hanna Spengler | evangelisch.de