von UWE SIEMON-NETTO (factum-Titelgeschichte 5/16) – Während Amerikas Wähler, Lemmingen gleich, schier unbeirrbar zum Sprung in die Katastrophe ansetzen, wird in vielen Katakombenkirchen Chinas dafür gebetet, dass die Christen in den USA wieder lernen, für ihren Glauben zu leiden. „Diese Brüder und Schwestern tun das uns zuliebe“, berichtete mir ein amerikanischer Missionar nach seiner Rückkehr von einer Studienreise, bei der er das phänomenale Wachstum chinesischer Hausgemeinden erforschte. „Sie halten die Selbstgefälligkeit moderner westlicher Christen für… bibelwidrig und verhängnisvoll, denn schliesslich fordere Jesus: ,Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir’ (Matthäus 16,4)“, fuhr er fort. „Wenn sie uns das Martyrium wünschen, dann nur, weil sie am eigenen Leibe erlebt haben, was Tertullian schon vor 1.800 Jahren sagte: ‚Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.’“ Der frühe christliche Schriftsteller Quintus Septimius Florens Tertullianus (ca. 150-220 A.D.), kurz Tertullian genannt, lebte in Karthago.
Theologisch liegt das „chinesische Gebet“, von dem der Missionar sprach, eindeutig auf einer Linie einer Kernaussage des von den Nationalsozialisten gehenkten lutherischen Märtyrers Dietrich Bonhoeffer, der in seinen Gefängnisbriefen schrieb: „Der Mensch wird aufgerufen, mit Gott in einer gottlosen Welt mitzuleiden.“
Ich hatte in den Sechzigerjahren als Asienkorrespondent des Axel-Springer-Verlages das Leiden der chinesischen Christen und ihren unaufhaltsamen Zuwachs aus nächster Nähe beobachtet. Täglich landeten neue Schreckensnachrichten über ihr grauenvolles Schicksal vor allem während Mao Zedongs „Grosser Proletarischer Kulturrevolution“ (1966-1976) auf meinem Schreibtisch in Hongkong, das damals noch eine britische Kronkolonie war. Christen wurden an den Pranger gestellt, zwangsdeportiert, gefoltert, in Arbeitslager gesperrt, erschossen und erschlagen, und dennoch hatten die verbotenen Hausgemeinden einen Zulauf, den wir Journalisten als sensationell empfanden. Auch heute noch werden sie unterdrückt. Gleichwohl hat der amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark ermittelt, dass ihre Zahl jährlich um sieben Prozent anschwillt. Stark rechnet damit, dass im Jahr 2030 fast 250 Chinesen jeden Sonntag um Gottesdienst gehen werden, das wird zwar nur ein Bruchteil der derzeit 1,4 Milliarden Chinesen sein, aber doch die größte Gemeinde treuer Kirchgänger in irgendeinem Land der Welt.
„Katakomben sind eine gute Sache“, erklärte mir der Missionar, „solange sie keine exklusiven Klubs sind sondern geistliche und zivilisatorische Güter bewahren, um sie weiterzureichen.“ Obwohl die chinesischen Christen nach wie vor unterdrückt werden, tragen sie das Evangelium jetzt in ungleich gefährlichere Gefilde, nämlich nach Nordkorea, wo Missionare und Täuflinge entweder sofort umgebracht oder in Todeslager gesteckt werden. Seine Hauptstadt Pjöngjang war vor der kommunistischen Machtübernahme 1948 eine Hochburg des reformierten Christentums in Ostasien.
Wie lange diese geistlichen Schätze –Saatkörner der Kirche, um Tertuillian paraphrasieren — in Katakomben ruhen können, ehe sie Früchte bringen, darüber kann man nur spekulieren, aber es gibt Indizien dafür, dass das Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dauern kann. Womöglich sehen wir hier eine späte Ernte der Keime, die Karl Friedrich August Gützlaff (1803-51) aus Stettin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Lebensgefahr nach China trug. Gützlaff hatte die Bibel und Luthers Kleinen Katechismus ins Chinesische übersetzt und mit diesen Schriften bis tief ins Reich der Mitte vorgedrungen. Der britische Evangelist Hudson Taylor (1832-1905) nannte Gützlaff jedenfalls den „Grossvater der chinesischen Inlandsmission“.
Ob nun, um eine andere Metapher zu benutzen, der heutige Flächenbrand des christlichen Glaubens in China direkt oder indirekt die Folge des Funken ist, den Gützlaff und andere vor fast 200 Jahren ins Land geschmuggelt hatten, ist nicht schlüssig nachgewiesen. Wir wissen aber von anderen Beispielen, wie der Heilige Geist über lange Zeitabschnitte hinweg den Boden für so etwas vorbereitet. Nehmen wir den anhaltenden Erfolg der Musik Johann Sebastian Bachs in Japan. Wie Musikwissenschaftler herausfanden, wurzelt dieses Phänomen in der Arbeit von Missionaren, die Mitte des 16. Jahrhunderts den Süden dieses Inselreiches zu einem großen Teil christianisierten; Nagasaki war jahrzehntelang eine katholische Stadt. Die Missionare führten gregorianische Choräle ein. Sie bauten Orgeln mit Bambuspfeifen und unterwiesen junge Prinzen, diese zu spielen. Schon nach wenigen Jahren reisten junge japanische Organisten nach Europa, um an den spanischen und portugiesischen Königshöfen zu musizieren.
Aber Anfang des 17. Jahrhunderts ließ der Shogun (kaiserliche Feldherr) das Christentum in Japan brutal ausmerzen. Geistliche und Gläubige wurden verbrannt oder scharenweise gekreuzigt, oft mit dem Kopf nach unten über Klärgruben. Nur eine winzige Minderheit, Kakure Karishitan (heimliche Christen) genannt, überlebte im Verborgenen. Als das Christentum im 19. Jahrhundert wieder zugelassen wurden, tauchten 30.000 dieser Getreuen aus dem Untergrund auf. Zweihundert Jahre lang hatte diese kleine Schar den Schatz der christlichen Lehre gehütet. Zugleich wirkte der Heilige Geist jedoch auch auf einer zweiten Schiene: Die japanische Volksmusik integrierte die von den Missionaren eingeführte westliche Tonalität. Deswegen hatten die Japaner einen leichten Zugang zur die Musik Bachs, als dessen Werke zum ersten Mal im späten 19. Jahrhundert in Tokio aufgeführt wurden. Heute zahlen Japaner bis zu 1.000 Euro für eine Karte zur Matthäuspassion oder zum Weihnachtsoratorium.
Dies wiederum hat auch missionarische Folgen. Japans bedeutendster Bach-Interpret, Masaaki Suzuki, sagte mir einmal, dass seine Zuhörer während der Konzerte sorgfältig die Texte der Kantaten und Oratorien auf Deutsch und Japanisch läsen. Anschließend drängelten sie sich vor seiner Bühne, um sich geistliche Begriffe, die ihnen bei dieser Lektüre aufgefallen waren, erläutern zu lassen. Vor allem das Wort Hoffnung fasziniere sie, weil es dafür im Japanischen kein wirkliches Äquivalent gebe. „Wir benutzen entweder die Vokabel ‚Ibo’, die Begierde bedeutet, oder ‚Nozomi’, womit eigentlich etwas Unerreichbares gemeint ist“, erklärte Suzuki, ein Presbyterianer. „Auf diese Weise entspannen sich schnell tiefe Glaubensgespräche mit Heiden. Die Japaner sind ein suchendes Volk, das darunter leidet, wie geistlich verarmt es ist. Unter dem Eindruck einer eines Bach-Oratoriums sprechen sie mich dann auf Themen an, die normalerweise bei ihnen tabu sind, zum Beispiel den Tod.“
Nicht, dass jetzt gleich eine Erweckung ganz Japan packte. Weniger als ein Prozent der Japaner sind Christen, und darüber zu spekulieren, ob oder wann sich einmal ein größerer Teil der 127 Millionen Bürger dieses hochsäkularisierten Kaiserreiches zu Jesus bekennen wird, wäre unbiblisch. Aber ich kenne schöne Geschichten von Japanern, die über Bach zum Glauben kamen. Da ist Yuko Maryama, eine vormals fromme Buddhistin, die sich nach dem Studium der Musik Johann Sebastian Bachs taufen ließ und hernach Organistin an einer großen lutherischen Kirche in Minneapolis wurde. Da ist ein japanischer Professor, der noch zu DDR-Zeiten monatelang an der Thomaskirche in Leipzig die lutherischen Wochentagsperikopen aus der Bach-Zeit studierte und hernach meinen Freund, den damaligen Superintendenten Johannes Richter, bat: „Taufen sie mich!“ Da ist schließlich der frühere Atheist und nachmalige Theologieprofessor Masashi Musada, der seine Konversion nicht etwa auf ein Choralwerk des früheren Leipziger Thomaskantors zurückführte sondern auf seine eher abstrakten Goldberg-Variationen, also Klaviermusik. „Ich musste einfach herausfinden, welcher Geist dem Komponisten Bach dies eingegeben hat“, erläuterte Musada.
Welcher Geist war das? Der anglikanische Theologe und Biologe Arthur Peacocke sagte einmal über eine vergleichbare Komposition, Die Kunst der Fuge: „Der Heilige Geist persönlich hat sie Bach in die Feder diktiert.“
Das bringt uns zurück zu dem Martyrium, das chinesische Christen uns Westeuropäern und Amerikanern wünschen – und zu dem Katakombenschicksal, das damit zwangsläufig verbunden ist. Wie das Martyrium des Westens letztlich aussehen wird, lässt sich nur erahnen. Wird es eine apokalyptische Schlacht sein? Gerät der Westen unter die Knute des Islams? Oder wird das Martyrium in zunächst kleinen, aber sich steigernden, homöopathischen Dosen verabreicht?
Wo in den Massenmedien kann ein bibeltreuer Christ noch Karriere machen? In welchem überregionalen weltlichen Blatt, außer vielleicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, kann ein Autor sein christliches Weltbild durchschimmern lassen? An welcher staatlichen oder städtischen Universität der USA hat ein solcher Paradiesvogel noch Aussicht auf eine Vollprofessor? Wo in Amerika kann ein Standesbeamter einem gleichgeschlechtlichen Paar ungestraft die Trauung vorzuenthalten? Welcher Konditor darf sich in den USA noch weigern, für die Hochzeit von Homosexuellen eine Torte zu backen? Wo darf man dort eine Weihnachtskrippe öffentlich zur Schau stellen, ohne sich einen teuren Zivilprozess einzuhandeln, wo ist es heute in dieser vormals christlichen Nation kein Wagnis, wenn ein Geschäftsinhaber seine Schaufenster zur Adventszeit mit christlichen Motiven dekoriert? Wo in der westlichen Welt muss man nicht die Hand vor den Mund halten, wenn man widernatürliches Sexualverhalten eben so nennen will wie schon Platon vor fast 2.400 Jahren, nämlich para physin – eben wider die Natur? Wie viele unterstehen sich noch, die staatlich sanktionierte Abtreibung öffentlich das zu nennen, was sie ist, nämlich Mord?
So gesehen, erleben Christen im Westen bereits ihr Martyrium; sie leiden für ihre Bekenntnistreue, auch wenn sie noch – noch — kein Blutzeugnis leisten müssen wie ihre Glaubensgenossen einst in Japan und China und heute noch in Nordkorea und im Nahen und Mittleren Osten, wo die chaldäischen Christen ihre uralte Kultur über anderthalb Jahrtausende bewahrt hatten, bevor radikale Muslime sie in den letzten Jahren systematisch eliminierten.
Man muss kein Wahrsager sein, um zu wissen, dass für uns die Zeit gekommen ist, zielstrebig Katakomben zu schaffen, aber nicht im Sinne von Höhlen, in denen Rechtgläubige angstvoll zusammenkauern, sondern Katakomben im übertragenen Sinne: Netzwerke von Christen, die ihre Schätze pflegen und bereit sind, sie mit jedem zu teilen, der sie begehrt. Der größte Schatz sind die christliche Lehre und eine saubere Theologie, aber danach kommen auch andere Güter: unsere Musik und bildenden Künste, unsere Umgangsformen, Geschichts- und Literaturkenntnisse, unsere Bereitschaft, in allem, was wir tun, dem Nächsten zu dienen und – Evangelikale mögen es einem hochkirchlichen Lutheraner bitte nachsehen, wenn er ihnen dies ins Stammbuch schreibt — unser Liedgut und unsere wunderbare Liturgie, von der jedes Wort aus der Bibel stammt und die vor allem in Notsituationen stets aus unserem Bewusstsein abrufbar ist. Ihr freikirchlichen Schwestern und Brüder, glaubt’s nur einem alten Fahrensmann, der in seiner Kindheit zwei Jahre lang Nacht für Nacht im Bombenkeller saß und als Frontberichterstatter in Vietnam oft im Gefecht war: Nichts verwandelte in solchen Situationen die Angst so schnell in eine gottgegebene Gelassenheit wie das Kyrie eleison (Herr, erbarme dich), das ich schon im Kindergottesdienst gelernt hatte und seither in meinem Kopf sang, wenn ich in höchsten Nöten war.
Dabei sollten sich die künftigen Katakombenmenschen nicht genieren, bei einem der beiden schlimmsten Christenverfolger Anleihen zu machen: dem Kommunismus. Sein strategisches Erfolgsrezept war ja, innerhalb der Gesellschaft Zellen zu bilden und diese lose miteinander zu vernetzen, aber in einer Weise, die von außen kaum angreifbar war. Zu DDR-Zeiten handelten auch Christen so und nahmen damit unauffällig Einfluss auf den Wandel in ihrer verheideten Umwelt. Ich untersuchte dieses Phänomen zur Wendezeit und erfuhr vor allem in Sachsen Erstaunliches: Diese christlichen Zellen waren zwar winzig, kannten aber keine konfessionellen Unterschiede mehr. Im Gegensatz zu ihren marxistischen Vorbildern übten sie auf ihre Mitmenschen keinen Druck und schon erst recht keinen Terror aus. Sie verteilten auch keine frommen Traktate sondern handelten unaufdringlich; ihr erstes Missionswerkzeug war ihr vornehmes, rücksichtsvolles Auftreten am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit.
In Fabriken und Büros weckten sie durch ihre Sprache, ihren offenen Blick, ich adrettes Aussehen und ihre Hilfsbereitschaft die Neugier und das Vertrauen ihrer Kollegen, die sich, wenn sie in Nöten waren, nicht an den dafür vorgesehenen SED- oder Gewerkschaftsfunktionär wandten sondern an diese einfachen Christen. In den entseelten Plattenbauten zogen sie von Wohnungstür zu Wohnungstür, stellten sich ihren oft vereinsamten Nachbarn vor, kamen mit ihnen schnell ins Gespräch und luden sie zu sich an. Immer wieder hörte ich, wie die Angesprochenen reagierten. Sie fragten die Christen: „Warum seid ihr so anders? Wieso wirkt ihr so glaubwürdig und rechtschaffen? Woher nehmt ihr eure Gelassenheit? Was treibt euch an?“ Und damit war dann der Weg zu klug geführten Glaubensgesprächen offen. Die riesengroße Schar regimekritischer „netter Heiden“, die zur Wendezeit in den DDR-Kirchen Unterschlupf fanden und so das Regime zu stürzen vermochten, kam ja nicht dorthin, weil Gläubige ihnen mit ihrer selnstgerechten Penetranz auf die Nerven gefallen wären, sondern im Gegenteil, weil sie ihnen ganz einfach menschlich-integer begegnet waren. Dass die Bürger der neuen Bundesländer nach der Wende dies nicht honoriert haben, indem sie sich bekehrten, hat etwas mit der Erbsünde zu tun, mit der angeborenen Unfähigkeit des Menschen, wahre Gottesfurcht zu haben (siehe Augsburger Bekenntnis Artikel zwei) und mit dem Monopol des Heiligen Geistes, Glauben zu wirken.
Wir täten wohl daran, nach dem Vorbild der DDR-Christen eigene Strategien zu entwickeln, um dem Lärm der Medien, der Demagogie des politischen Diskurses, der Vulgarität in Literatur und Umgangssprache, den pöbelhaften Manieren, kurz, der Ichsucht unserer sich entzivilisierenden, gottlosen Gesellschaft entgegenzuwirken. Man muss seinen Nachwuchs nicht diesen Einflüssen überlassen. An der Hamburger Nikolaikirche gab es früher den Pastor Peter Barth. In seinem Pfarrhaus blieb der Fernseher unter Verschluss, bis der Familienrat beschloss, was man sich am Abend anschauen wollte. „Was antworten ihrer Kinder aber in der Schule von ihren Klassenkameraden auf irgendwelche debilen TV-Programme angesprochen werden?“ fragte ich Pastor Barth. Er antwortete: „Dann fragen sie einfach zurück: ‚Könnt ihr Trompete spielen? Oder Oboe oder das Cembalo? Wisst ihr, was eine Fuge ist?“ Dass Barths Kinder nicht beliebig den Kühlschrank tauchten, sich irgend etwas Essbares herausholten und dann mampfend auf die Straße rannten, sondern kultiviert mit den Eltern nach dem Tischgebet ihre Speisen einnahmen, versteht sich von selbst. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, diesen wackeren Pastor nicht nachzuahmen.
Welche Gestalt die neuen Katakomben haben und wie die überkonfessionellen christlichen Zellen in unserer Zeit mit ihren vorapokalyptischen Zügen funktionieren werden, wird sich zeigen. Aber dass die Zeit drängt, uns für eine Leidenszeit zu organisieren, liegt auf der Hand. Wahrscheinlich werden wir freilich selbst keinen unmittelbaren Gewinn davon haben, dass wir treu, miteinander verbunden, aber auch nach außen offen bleiben. Aber es tut gut, von den japanischen und chinesischen Christen zu lernen, dass das, was hier heute säen, in vielen hundert Jahren Frucht tragen wird, dann nämlich, wenn es dem Schöpfer gefällt, der ja nicht nur im Minutentakt denkt und handelt sondern über Äonen hinweg.